Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
geantwortet und den Baumstamm zwanzig Zentimeter höher eingeritzt. »Wenn du so groß bist, sind wir wieder da, um dich zu ärgern, Bella.«
So viel war sie nicht mehr gewachsen.
Ein umherhuschender Gecko holt sie wieder in die Gegenwart zurück – und in ihre missliche Lage. Die Frage quält sie, während der Mond über ihr schlaff zwischen den Zweigen hängt: Wer ist Tom wirklich? Der Mann, den sie so gut zu kennen glaubte. Wie konnte er fähig sein, sie derart zu verraten? Was war ihr Leben mit ihm wert? Und wer waren die Seelen – ihr Blut gemischt mit seinem –, denen es nicht gelungen ist, in ihr zu gedeihen? Ein gespenstischer Gedanke springt sie an: Welchen Sinn hat das Morgen?
Die Wochen nach Graces Rückkehr waren für Hannah noch belastender als die nach ihrem Verschwinden. Denn nun musste sie sich mit Tatsachen auseinandersetzen, die sie so lange beiseitegeschoben hatte und denen sie nun nicht mehr entrinnen konnte. Die Jahre waren wirklich vergangen. Frank war wirklich tot. Ein Teil des Lebens ihrer Tochter war unwiederbringlich vorbei. Grace hatte ihre Tage nicht mit Hannah geteilt, sondern mit anderen Menschen. Ihr Kind hatte ein Leben ohne sie geführt. Ohne – Hannah ertappte sich bei dieser Vorstellung – auch nur einen Gedanken an sie zu verschwenden. Beschämt stellte sie fest, dass sie sich betrogen fühlte. Von einem Baby.
Sie erinnerte sich an Billy Wisharts Frau und daran, wie ihre Freude darüber, dass ihr tot geglaubter Mann von der Somme zurückgekehrt war, sich in tiefstes Elend verwandelt hatte. Das Opfer eines Gasangriffs, das zu ihr nach Hause gekommen war, war ein Fremder geworden, für sich selbst ebenso wie für seine Familie. Nachdem sie sich fünf Jahre lang abgemüht hatte, hatte sie sich eines Morgens, das Wasser in der Zisterne war noch von einer dicken Eisschicht bedeckt, im Melkschuppen auf einen umgedrehten Eimer gestellt und sich erhängt. Ihre Kinder mussten sie losschneiden, denn Billy konnte noch immer kein Messer halten.
Hannah betete um Geduld, Kraft und Verständnis. Jeden Morgen bat sie Gott, er möge ihr helfen, den Tag zu überstehen.
Als sie eines Nachmittags am Kinderzimmer vorbeikam, hörte sie eine Stimme. Sie wurde langsamer und schlich sich an die Tür, die einen Spalt weit offen stand. Zu ihrer Freude stellte sie fest, dass ihre Tochter endlich mit ihren Puppen spielte, denn bis jetzt waren Hannahs sämtliche Versuche gescheitert, sie dazu zu bewegen. Nun waren alle Teile ihres Puppenservices auf der Bettdecke verstreut. Eine Puppe trug noch ihr elegantes Spitzenkleid, doch die andere war bis auf Unterhemd und lange Unterhose ausgezogen. Auf dem Schoß der Puppe mit dem Kleid lag eine hölzerne Wäscheklammer. »Essenszeit«, sagte die Puppe im Kleid, hielt der Wäscheklammer die winzige Teetasse hin und machte Trinkgeräusche. »Braves kleines Mädchen. Und jetzt ins Bett, mein Liebling. Gute Nacht.« Die Puppe hob die Wäscheklammer an die Lippen und küsste sie. »Schau, Dadda«, fuhr sie fort. »Lucy schläft.« Dabei berührte sie zärtlich die Wäscheklammer. »Gute Nacht, Lulu, gute Nacht, Mama«, antwortete die Puppe in Unterhosen. »Ich muss jetzt die Lampe anzünden. Die Sonne geht gleich unter.« Und die Puppe verschwand unter der Decke. »Keine Angst, Lucy«, meinte die Puppe im Rock. »Die Hexe kann dir nichts tun. Ich mache sie tot.«
Ohne nachzudenken, marschierte Hannah ins Zimmer und riss dem Kind die Puppen weg. »Schluss mit diesen albernen Spielen, verstanden!«, schrie sie und versetzte ihrer Tochter einen Klaps auf die Hand.
Das Kind erstarrte, weinte aber nicht, sondern starrte Hannah nur schweigend an.
Sofort wurde Hannah von Reue ergriffen. »Liebling, es tut mir so leid. Ich wollte dir nicht wehtun.« Die Anweisungen des Arztes fielen ihr ein. »Diese Leute sind fort. Es war böse, dass sie dich nicht nach Hause haben gehen lassen. Aber jetzt sind sie weg.«
Als Grace die Worte »nach Hause« hörte, verzog sie verdattert das Gesicht.
Hannah seufzte. »Eines Tages. Eines Tages wirst du es verstehen.«
Während Hannah zur Mittagszeit schluchzend in der Küche saß und sich ihres Ausbruchs schämte, spielte ihre Tochter wieder dasselbe Spiel, diesmal mit drei Wäscheklammern. Hannah blieb bis spät in die Nacht auf und nähte, sodass das Kind am Morgen mit einer neuen Stoffpuppe auf dem Kissen aufwachte – ein kleines Mädchen, auf dessen Kleidchen der Name »Grace« aufgestickt war.
»Ich kann den Gedanken
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