Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
anspräche. Die flackernden Schatten, die die Flamme wirft, bewegen sich im Gleichtakt mit den Atemzügen ihrer Tochter. Das Licht fängt sich in ihrem golden schimmernden Haar und in dem dünnen Speichelfaden, der ihr aus dem Winkel ihres zart rosafarbenen Munds rinnt.
Nur allmählich wird sich Hannah ihres Wunsches bewusst, der in einem Winkel ihrer Gedanken entsteht: dass Grace tagelang, ja, nötigenfalls jahrelang weiterschlafen möge, bis die Erinnerungen an die fremden Menschen und ihr altes Leben verblasst sind. Sie spürt die eigenartige Leere in sich, die entstanden ist, als sie zum ersten Mal die verzweifelte Miene ihres zu ihr zurückgekehrten Kindes sah. Wenn Frank nur hier wäre. Er würde wissen, was zu tun ist und wie man diese Sache meistert. Ganz gleich, welche Tiefschläge das Leben ihm auch versetzt hat, er ist immer wieder auf die Beine gekommen, lächelnd und ohne einen Groll gegen jemanden zu hegen.
Hannah erinnert sich an ein winziges Geschöpf – ihr wundervolles Baby, eine Woche alt – und hat wieder Franks Gutenachtlied im Ohr: » Schlaf, Kindlein, schlaf. « Sie denkt daran, wie er in die Wiege geblickt und leise auf Deutsch mit Grace gesprochen hat. »Ich flüstere ihr schöne Dinge zu, damit sie gut träumt«, sagte er dann. »Solange man schöne Dinge im Sinn hat, kann man glücklich sein. Das weiß ich aus Erfahrung.«
Hannah richtet sich auf. Die Erinnerung allein reicht, um ihr Mut zu geben, den nächsten Tag durchzustehen. Grace ist ihre Tochter. Etwas in der Seele dieses Kindes wird das noch wissen und sie irgendwann erkennen. Sie muss nur Geduld haben, wie ihr Vater sagt. Bald wird das kleine Mädchen wieder ihr gehören und die Freude ihrer Tage sein, so wie am Tag ihrer Geburt.
Leise pustet sie die Kerze aus und schleicht sich im Licht, das durch die offene Tür hereinfällt, aus dem Zimmer. Als sie sich ins Bett legt, wird ihr schlagartig klar, wie leer es sich anfühlt.
Isabel läuft im Garten hin und her. Es ist drei Uhr morgens, und sie ist durch die Hintertür ihrer Eltern hinausgeschlüpft. Ein Schnee-Eukalyptus hat den Mond zwischen zweien seiner langen Äste eingefangen und umschließt ihn wie mit mageren Fingern. Das trockene Gras knistert beim Gehen leise unter ihren nackten Füßen. Hin und her, zwischen dem Palisander und dem Flammenbaum, vom Flammenbaum zum Palisander, wo vor all den Jahren das Krickettor stand.
Sie begreift und begreift gleichzeitig nicht und fühlt sich wie abgespalten von sich selbst. Es ist ein Flattern im Kopf, das mit dem Verlust des ersten Babys begann und stärker wurde, als ihr zwei weitere und nun auch noch Lucy entrissen wurden. Und der Tom, den sie geliebt, der Tom, den sie geheiratet hat, ist im Nebel des Verrats versunken. Heimlich hat er sich aus dem Staub gemacht, ist mit Briefen zu einer anderen Frau gelaufen und hat Pläne geschmiedet, um ihr die Tochter wegzunehmen.
» Ich verstehe. « Toms Nachricht verwirrt sie. Vor Zorn und Sehnsucht krampft sich ihr innerlich alles zusammen. Ihre Gedanken stieben in sämtliche Richtungen auseinander, und kurz spürt sie es körperlich, wie sie mit neun auf einem durchgegangenen Pferd saß. Die Tigerschlange auf dem Weg. Ein plötzliches Aufbäumen, und das Pferd preschte los. Zwischen den Bäumen hindurch, ohne sich um tief hängende Äste oder das Kind zu scheren, das sich verzweifelt an seine Mähne klammerte. Isabel presste sich flach an seinen Hals, bis die Angst des Tiers erlahmt und seine Kraft erschöpft war und es endlich, fast anderthalb Kilometer weiter auf einer Lichtung, zum Stehen kam. »Da kann man nichts tun«, hatte ihr Vater gesagt. »Wenn ein Pferd durchgeht, bleibt einem nur übrig, zu beten und sich aus Leibeskräften festzuhalten. Ein Tier in Todesangst ist nicht zu bremsen.«
Isabel hat niemanden, dem sie ihr Herz ausschütten kann. Niemand hätte Verständnis. Welchen Sinn hat ihr Leben ohne die Familie, die ihr Lebensinhalt war? Sie fährt mit dem Finger über den Palisanderbaum und ertastet den Kratzer – die Kerbe, die Alfie an dem Tag, bevor er und Hugh nach Frankreich aufbrachen, hineingeschnitzt hat, um ihre Körpergröße zu markieren. »Jetzt kann ich feststellen, ob du auch gewachsen bist, wenn ich zurückkomme, Schwesterchen, also gib dir Mühe.«
»Wann kommt ihr eigentlich zurück?«, hatte sie gefragt.
Die Jungen hatten einen – gleichzeitig besorgten und aufgeregten – Blick gewechselt. »Wenn du diesen Strich erreicht hast«, hatte Hugh
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