Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
ein, der sich vor all den Jahren auf dem Schiff eingemischt und sie vor einem schrecklichen Schicksal bewahrt hatte. Sie wusste noch, wie geborgen sie sich plötzlich in seiner Gegenwart gefühlt hatte. Der Widerspruch verschlug ihr bis heute den Atem. Wer konnte sagen, wie es wirklich in einem Menschen aussah? Sie hatte selbst miterlebt, wie befehlsgewohnt er mit dem Betrunkenen umgesprungen war. Glaubte er vielleicht, dass er über dem Gesetz stand? Dass es für ihn nicht galt? Doch dann waren da noch die beiden Briefe, abgefasst in einer wunderschönen Handschrift. »Beten Sie für mich.« Also betete sie auch für Tom Sherbourne: dafür, dass ihm Gerechtigkeit widerfahren würde, obwohl sich ein Teil von ihr wünschte, er möge für seine Tat büßen.
Am nächsten Tag hakte Gwen ihren Vater unter und schlenderte mit ihm über den Rasen. »Ich vermisse dieses Haus«, sagte sie und warf einen Blick auf das prachtvolle Anwesen aus Kalkstein.
»Es vermisst dich auch«, erwiderte ihr Vater und fügte nach ein paar Schritten hinzu: »Da Hannah ja nun Grace hat, könntest du vielleicht wieder bei deinem alten Vater einziehen …«
Gwen biss sich auf die Unterlippe. »Das würde ich wirklich gern tun. Aber …«
»Was ist?«
»Ich glaube, Hannah schafft es noch nicht allein.« Sie machte sich los und sah ihren Vater an. »Ich spreche es ja nur ungern aus, aber ich bin nicht sicher, ob sie je allein zurechtkommen wird. Und das arme kleine Mädchen! Ich hätte nie gedacht, dass ein Kind so unglücklich sein kann.«
Septimus berührte sie an der Wange. »Ich kannte einmal ein kleines Mädchen, das genauso unglücklich war. Du hast mir fast das Herz gebrochen. Das ging nach dem Tod deiner Mutter mehrere Monate so.« Er blieb stehen, um an einer der beinahe verblühten roten Rosen zu schnuppern. Nachdem er den Duft bis in die Lunge gesogen hatte, stützte er die Hand in den Rücken und richtete sich auf.
»Doch das genau ist ja das Traurige«, beharrte Grace. »Ihre Mutter ist nicht tot, sondern hier in Partageuse.«
»Ja, Hannah ist hier in Partageuse!«
Gwen kannte ihren Vater zu gut, um nachzuhaken. Schweigend schlenderten sie weiter. Während Septimus die Blumenbeete inspizierte, versuchte Gwen, nicht an das verzweifelte Schluchzen ihrer Nichte zu denken, das ihr einfach nicht aus dem Kopf wollte.
In jener Nacht grübelte Septimus angestrengt über eine Lösung nach. Er kannte sich mit kleinen Mädchen aus, die ihre Mutter verloren hatten. Und er hatte ein Händchen dafür, andere Menschen zu überzeugen. Nachdem sein Plan feststand, schloss er die Augen und schlief bald tief und fest.
Am nächsten Morgen fuhr er zu Hannah. »So, alles bereit? Wir machen jetzt einen Geheimausflug. Es wird langsam Zeit, dass Grace Partageuse ein bisschen besser kennenlernt und sieht, woher sie kommt.«
»Aber ich bin gerade dabei, die Vorhänge zu flicken. Für den Gemeindesaal. Ich habe es Reverend Norkells versprochen …«
»Ich kümmere mich schon um sie. Es wird ihr sicher gefallen.«
Der »Geheimausflug« begann mit einer Fahrt zu Potts’ Sägewerk. Septimus erinnerte sich, wie gerne Hannah und Gwen als Kinder die Arbeitspferde dort mit Äpfeln und Würfelzucker gefüttert hatten. Inzwischen wurde das Holz zwar mit der Bahn transportiert, doch man hielt noch einige alte Pferde für den Fall, dass die Schienen in den Wald von starken Regenfällen unterspült wurden.
Er tätschelte eines der Pferde. »Das, kleine Grace, ist Arabella«, verkündete er. »Kannst du ›Arabella‹ sagen?«
Dann wandte sich Septimus an den Stallburschen. »Wären Sie so gut, sie anzuspannen?«
Der Mann gehorchte und führte Arabella kurz darauf in den Hof. Sie zog einen Zweisitzer.
Septimus hob Grace in den Wagen und folgte ihr. »Wollen wir eine Erkundungsfahrt machen?«, fragte er und ruckte an den Zügeln des alten Pferds.
Noch nie hatte Grace ein so großes Pferd gesehen. Sie war auch noch nie in einem richtigen Wald gewesen und kannte nur das Gestrüpp hinter dem Haus der Graysmarks, in das sie während ihres unfreiwilligen Abenteuers hineingeraten war. Bis jetzt hatte sie immer nur zwei Bäume vor Augen gehabt – die Norfolktannen auf Janus. Septimus folgte einem alten Forstweg durch die riesigen Eukalyptusbäume und wies Grace auf Kängurus und Warane hin. Das Kind war gebannt von dieser Märchenwelt. »Was ist das?«, fragte es, wenn es einen Vogel oder ein Zwergkänguru bemerkte. Und dann sagte der Großvater dem kleinen
Weitere Kostenlose Bücher