Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
Friedhof und der Methodistenkirche hätte sie schneller zu Septimus’ Haus gebracht.
»Bist du müde, Lucy? Wollen wir eine kleine Rast machen? Es ist ziemlich weit bis zu Opa, und du bist ja noch klein …« Das Mädchen öffnete und schloss nur weiter Daumen und Zeigefinger wie eine Pinzette, um die vom Lutscher hinterlassene klebrige Schicht zu prüfen. Aus dem Augenwinkel sah Gwen Isabel auf der Bank sitzen. »Lauf schon voraus. Sei ein braves Mädchen. Lauf zur Bank, ich komme nach.« Das Kind rannte nicht, sondern zog die Füße nach und ließ die Stoffpuppe über den Boden schleifen. Gwen hielt Abstand und beobachtete die Szene.
Isabel traute ihren Augen nicht. »Lucy? Liebes!«, rief sie und nahm sie in die Arme, ohne sich zu fragen, wie sie hierhergekommen war.
»Mama!«, jubelte das Kind und klammerte sich an sie.
Als Isabel sich umdrehte, erkannte sie Gwen, die nickte, wie um zu sagen: »Nur zu!«
Isabel kümmerte es nicht, welche Beweggründe die Frau haben mochte. Weinend umarmte sie das kleine Mädchen und hielt es dann auf Armeslänge entfernt, um es besser ansehen zu können. Vielleicht würde sie Lucy trotz alledem dennoch behalten dürfen. Bei der Vorstellung wurde ihr ganz warm ums Herz.
»Oh, du bist so mager geworden, Kleines! Du bist ja nur noch Haut und Knochen. Du musst ein braves Mädchen sein und ordentlich essen. Mama zuliebe.« Langsam nahm sie die übrigen Veränderungen an ihrer Tochter wahr. Der Seitenscheitel, ein Kleid aus feinem, mit Gänseblümchen besticktem Musselin, Schuhe mit Schmetterlingen an den Schnallen.
Gwen, die die Reaktion ihrer Nichte beobachtete, wurde von Erleichterung ergriffen. Das Kind war, so plötzlich geborgen bei der Mutter, die es liebte, wie ausgewechselt. Sie ließ die beiden gewähren, bevor sie schließlich näher kam. »Ich nehme sie jetzt besser mit. Ich war nicht sicher, ob Sie hier sind.«
»Aber … ich verstehe nicht.«
»Es ist eine schreckliche Situation und eine Belastung für alle Beteiligten.« Gwen seufzte und schüttelte den Kopf. »Meine Schwester ist wirklich ein guter Mensch und hat so viel durchgemacht.« Sie wies mit dem Kopf auf das Kind. »Ich versuche, sie wieder mitzubringen. Ich kann nichts versprechen. Haben Sie Geduld. Mehr kann ich im Moment nicht sagen. Wenn Sie abwarten, könnte vielleicht …« Sie beendete den Satz nicht. »Aber sprechen Sie bitte mit niemandem darüber. Hannah würde es nicht verstehen und mir nie verzeihen … Komm jetzt, Lucy«, sagte sie und streckte die Arme nach dem Mädchen aus.
Das Kind klammerte sich an Isabel. »Nein, Mama! Ich will nicht!«
»Komm, mein Kleines. Sei Mama zuliebe brav. Du musst jetzt mit der Dame mitgehen. Doch wir sehen uns bald wieder, ich schwöre.«
Aber das Kind ließ noch immer nicht los.
»Wenn du jetzt brav bist, können wir wiederkommen«, meinte Gwen, lächelte und zog es sanft weg.
Ein letzter Rest Vernunft hinderte Isabel daran, ihr Kind einfach an sich zu reißen. Nein. Die Frau hatte ihr zugesichert, Lucy wieder hierherzubringen, wenn sie Geduld hatte. Wer wusste, was sich im Laufe der Zeit noch ändern konnte?
Gwen brauchte eine geraume Weile, um ihre Nichte zu beschwichtigen. Sie streichelte sie, nahm sie auf den Arm und lenkte sie so gut wie möglich mit Rätseln und Zeilen aus Kinderreimen ab. Obwohl sie nicht sicher war, wie sie ihren Plan in die Tat umsetzen sollte, ertrug sie es nicht länger, das arme Kind von seiner Mutter fernzuhalten. Hannah hatte schon immer einen Dickkopf gehabt, und Gwen befürchtete, dass dieser sie nun blind für die Wirklichkeit machte. Sie fragte sich, ob sie das Treffen wohl vor Hannah würde geheim halten können. Doch auch, wenn der Plan scheiterte, war es einen Versuch wert. »Weißt du, was ein Geheimnis ist?«, fragte sie deshalb, als Grace sich endlich beruhigt hatte.
»Ja«, murmelte das Kind.
»Gut, dann spielen wir das Geheimnis-Spiel, einverstanden?«
Das kleine Mädchen sah sie an und wartete auf eine Erklärung.
»Du hast Mama Isabel doch lieb, oder?«
»Ja.«
»Und du möchtest sie bestimmt wiedersehen. Allerdings könnte Hannah ein bisschen ärgerlich werden, weil sie sehr traurig ist. Also dürfen wir es ihr und Opa nicht erzählen, in Ordnung?«
Die Miene des Kindes verfinsterte sich.
»Wir müssen es streng geheim halten. Und wenn jemand fragt, was wir heute gemacht haben, antworten wir nur, dass wir bei Opa waren. Du darfst niemandem sagen, dass wir deine Mama getroffen haben. Verstehst
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