Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
du das, Liebes?«
Das kleine Mädchen schürzte die Lippen und nickte ernst. Verwirrung malte sich in seinen Augen.
»Sie ist ein kluges Kind und weiß, dass Isabel Sherbourne nicht tot ist. Wir haben sie bei Mouchemore getroffen.« Wieder saß Hannah in Dr. Sumptons Sprechzimmer, diesmal ohne ihre Tochter.
»Ich kann nur wiederholen, dass ich als Fachmann es für die einzige Lösung halte, abzuwarten und Ihre Tochter von Mrs. Sherbourne fernzuhalten.«
»Ich habe mich nur gefragt … nun, wenn ich sie dazu bringen könnte, mit mir zu sprechen … über ihr altes Leben auf der Insel. Würde das etwas nützen?«
Der Arzt zog an seiner Pfeife. »Stellen Sie es sich einmal so vor: Wenn ich Ihnen gerade den Blinddarm entfernt hätte, wäre es wohl keine gute Idee, die Wunde alle fünf Minuten zu öffnen, um darin herumzustochern und festzustellen, ob sie schon verheilt ist. Ich weiß, wie schwer es ist, aber in diesem Fall geht es am schnellsten vorbei, wenn man die Vergangenheit so wenig wie möglich erwähnt. Sie wird darüber hinwegkommen.«
Doch soweit Hannah es beurteilen konnte, wies nichts darauf hin. Das Kind entwickelte einen Ordnungswahn, sortierte seine Spielsachen und machte pedantisch sein Bett. Außerdem versetzte es dem Kätzchen einen Klaps, weil es das Puppenhaus umgeworfen hatte, und schwieg hartnäckig, um der Frau, die sich als seine Mutter ausgab, nur bloß kein Zeichen der Zuneigung entgegenzubringen.
Aber Hannah ließ nicht locker. Sie erzählte dem Mädchen Geschichten vom Wald und den Männern, die dort arbeiteten, von ihrem Internat in Perth und ihrer Schulzeit dort und von Frank und seinem Leben in Kalgoorlie. Obwohl das Kind ihr kaum zuhörte, sang sie ihm deutsche Lieder vor. Sie nähte Puppenkleider und kochte Pudding zum Abendessen. Die Reaktion des Mädchens bestand daraus, dass es Bilder malte. Sie stellten stets dasselbe dar: Mama und Dadda und Lulu am Leuchtturm, dessen Lichtstrahl bis zum Rand der Seite reichte und die Dunkelheit ringsherum vertrieb.
Von der Küche aus konnte Hannah beobachten, wie Grace im Wohnzimmer auf dem Boden saß und sich mit ihren Wäscheklammern unterhielt. Da sie in letzter Zeit, außer in Septimus’ Gegenwart, noch aufgebrachter war als sonst, war ihre Mutter froh, sie so ruhig spielen zu sehen. Sie pirschte sich zur Tür, um zu lauschen.
»Lucy, hier hast du ein Bonbon«, sagte die eine Wäscheklammer.
»Mmmm«, antwortete die andere Wäscheklammer und verspeiste die leere Luft, die das Kind ihr mit den Fingerspitzen reichte.
»Ich habe ein ganz besonderes Geheimnis«, fuhr die erste Wäscheklammer fort. »Komm mit Tante Gwen, wenn Hannah schläft.«
Während Hannah die Szene aufmerksam betrachtete, stieg eiskalte Übelkeit in ihr hoch.
Grace nahm eine Zitrone aus ihrer Kleidtasche und deckte sie mit ihrem Taschentuch zu. »Gute Nacht, Hannah«, sagte Tante Gwen. »Jetzt besuchen wir Mama im Park.«
»Schmatz, schmatz.« Die beiden anderen Wäscheklammern drückten sich aneinander und küssten sich. »Meine liebste Lucy. Komm, Liebling. Wir gehen nach Janus.« Die beiden Wäscheklammern trotteten eine Weile auf dem Teppich hin und her.
Das Pfeifen des Teekessels schreckte Lucy auf, und sie sah Hannah in der Tür stehen. Sofort warf sie die Wäscheklammern auf den Boden. »Böse Lucy!«, rief sie und gab sich selbst einen Klaps auf die Hand.
Hannahs Entsetzen beim Anblick dieses Spiels wurde angesichts dieses Tadels von Verzweiflung abgelöst. So sah ihre Tochter sie also. Nicht als liebende Mutter, sondern als Tyrannin. Sie bemühte sich um Ruhe und überlegte, was sie tun sollte.
Mit zitternden Händen kochte sie Kakao und brachte ihn ihrer Tochter. »Das war aber ein hübsches Spiel, Schatz«, sagte sie, bemüht, das Beben in ihrer Stimme zu unterdrücken.
Das Kind saß reglos da, antwortete nicht und trank auch nicht aus dem Becher in seiner Hand.
»Kennst du irgendwelche Geheimnisse, Grace?«
Das Mädchen nickte langsam.
»Es sind sicher wunderschöne Geheimnisse.«
Wieder bewegte sich das kleine Kinn auf und nieder, während die Augen zu ermitteln versuchten, wie die Regeln wohl lauteten.
»Sollen wir auch ein Spiel spielen?«
Das Kind scharrte mit der Zehe über den Fußboden.
»Lass uns ein Spiel spielen, in dem ich dein Geheimnis errate. Auf diese Weise bleibt es ein Geheimnis, denn du hast es mir ja nicht erzählt. Und wenn ich richtig rate, bekommst du einen Lutscher als Preis.« Die Miene des Kindes verspannte sich,
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