Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
seine Haut war. Sie küsste nacheinander die winzigen Fingerspitzen und knabberte die Nägel ein wenig ab, damit das Kind sich nicht kratzte. Dann stützte sie den Hinterkopf des Babys mit der Handfläche, tupfte ihm mit ihrem besten Taschentuch den eingetrockneten Schleim von den Nasenlöchern und wischte ihm die salzigen Tränen von den Augen. Die Situation schien mit einer anderen Badeszene zu verschmelzen. Dem Waschen eines anderen Gesichts, so als wäre die Handlung niemals unterbrochen worden.
In diese Augen zu blicken, war, als schaue man in das Angesicht Gottes. Keine Maske, keine Verstellung: Die Hilflosigkeit des Babys war überwältigend. Dass dieses vollkommene Geschöpf, diese zart geformte Verbindung von Blut, Knochen und Haut, ihr ausgerechnet jetzt so plötzlich in den Schoß gefallen war, erfüllte sie mit Ehrfurcht. Dass das Baby hier eingetroffen war, kaum zwei Wochen nach … Es war unmöglich, es als Zufall abzutun. Das Baby war empfindlich wie eine fallende Schneeflocke und hätte so leicht schmelzen und sich in Luft auflösen können, hätte die Strömung es nicht schnurstracks und wohlbehalten an den Schiffbruchstrand getragen.
In einer Welt ohne Worte, in einer Sprache von Lebewesen zu Lebewesen, teilte das Baby Isabel durch ein Lockern der Muskeln und einer Entspannung des Genicks mit, dass es ihr vertraute. So knapp dem Tod entronnen, verbanden sich nun zwei Leben, so wie sich Wasser mit Wasser mischt.
Eine Unzahl von Gefühlen stürmte auf Isabel ein: Bewunderung, als die winzigen Händchen nach einem ihrer Finger griffen; ein Schmunzeln über den niedlichen kleinen Po, der noch nahtlos in die Beine überging; Staunen, als ein Atemzug die Luft einsog und sie in Blut, in Seele, verwandelte. Und hinter alldem schwang eine dumpfe, schmerzhafte Leere mit.
»Jetzt hast du mich zum Weinen gebracht, mein Kleines«, sagte Isabel. »Wie hast du das geschafft? Du wundervolles, traumhaftes kleines Ding.« Sie hob das Baby wie eine heilige Opfergabe aus dem Bad, legte es auf ein weiches, weißes Handtuch und fing an, es trocken zu tupfen, wie man es bei Tinte tut, damit sie nicht verschmiert – so, als könne sie es auslöschen, wenn sie nicht vorsichtig war. Das Baby ließ es geduldig über sich ergehen, mit Talkumpuder eingestäubt und in eine frische Windel gewickelt zu werden. Ohne zu zögern, ging Isabel zur Kommode im Kinderzimmer und wählte eines der vielen ungetragenen Kleidungsstücke aus. Sie nahm ein gelbes, oben mit Entchen besticktes Kleidchen und zog es dem Kind vorsichtig an.
Ein Wiegenlied summend, wobei sie hin und wieder einen Takt unter den Tisch fallen ließ, öffnete sie die winzige Hand und betrachtete die Handlinien: vorhanden ab dem Augenblick der Geburt – ein vorgezeichneter Weg, der das Baby an diese Küste geführt hatte. »Oh, mein wunderschönes Kleines«, sagte sie. Inzwischen schlief das erschöpfte Baby tief und fest. Es atmete kurz und flach. Isabel hielt es in einem Arm, während sie mit der anderen Hand ein Laken in der Wiege ausbreitete und die Decke ausschüttelte, die sie aus weicher Lammwolle gehäkelt hatte. Sie brachte es nicht über sich, das Baby hinzulegen – einen Moment noch. In einer Welt jenseits allen Bewusstseins verschwor sich die Flut der Stoffe, die ihren Körper noch vor kurzer Zeit auf die Mutterschaft vorbereitet hatten, dazu, ihre Gefühle zu steuern und ihre Muskeln zu lenken. Im Keim erstickte Instinkte erwachten wieder zum Leben. Isabel trug das Baby in die Küche, legte es auf ihren Schoß und blätterte das Buch mit Namen durch.
Ein Leuchtturmwärter muss Buch führen. Jeder Gegenstand auf seinem Posten wird aufgelistet, gelagert, gewartet und kontrolliert. Der behördlichen Überprüfung entgeht nichts. Der stellvertretende Leiter der Leuchtturmbehörde hat ein Auge auf alles, von den Röhren für die Brenner bis hin zur Tinte für die Protokollbücher, von den Besen im Schrank bis hin zum Stiefelkratzer an der Tür. Alles ist in der ledergebundenen Inventurliste aufgeführt – selbst die Schafe und Ziegen. Nichts wird ohne schriftliche Genehmigung aus Fremantle weggeworfen oder beseitigt. Bei kostspieligen Dingen muss sogar eine Erlaubnis aus Melbourne eingeholt werden. Und Gott steh dem Leuchtturmwärter bei, dem eine Kiste Glühstrümpfe oder vier Liter Öl fehlen, ohne dass er mit einer triftigen Begründung aufwarten kann. Trotz ihres Einsiedlerlebens werden Leuchtturmwärter ständig unter die Lupe genommen und
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