Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
einer a-Moll-Tonleiter, erst in einer Oktave, dann in der nächsten und der übernächsten. Das Aufprallen eines Kricketballs auf Holz, als Hugh und Alfie draußen herumtollten, während sie, eine »junge Dame«, sich in »Kultiviertheit« unterweisen ließ und lauschte, während ihre Großmutter ihr wieder einmal erklärte, wie wichtig es sei, die Handgelenke anzuheben.
»Gegengleiche Tonleitern sind so dumm!«, beschwerte sich Isabel.
»Nun, du weißt offenbar alles über Tonleitern, mein Kind«, merkte ihre Großmutter an.
»Kann ich nicht Kricket spielen, Oma? Nur ein bisschen, dann komme ich zurück.«
»Kricket ist kein Spiel für Mädchen. Und jetzt weiter. Die Etüde von Chopin«, entgegnete sie und schlug ein mit Bleistiftnotizen und kleinen schokoladeverschmierten Fingerabdrücken übersätes Notenheft auf.
Wieder strich Isabel über die Taste. Plötzlich wurde sie von Sehnsucht ergriffen. Nicht nur nach Musik, sondern nach der Zeit, als sie nach draußen gelaufen war, ihren Rock gerafft hatte, um für ihre Brüder die Torwartin zu geben. Sie drückte auf einige andere Tasten, als könnten sie jenen Tag zurückholen. Doch es war nur das gedämpfte Klacken von Holz auf das Spielwerk zu hören, weil die Filzbeschichtung abgewetzt war.
»Es ist sinnlos«, meinte sie achselzuckend zu Tom, als er hereinkam. »Offenbar ist es hinüber. So wie ich.« Und sie brach in Tränen aus.
Einige Tage später standen die beiden an der Klippe.
Tom klopfte auf das kleine, aus Treibholz gezimmerte Kreuz, bis es fest im Boden steckte. »31. Mai 1922. Unvergessen«, hatte er auf die Bitte seiner Frau hineingeschnitzt.
Er nahm die Schaufel und hob ein Loch für den Rosmarinbusch aus, den Isabel im Kräutergarten ausgegraben hatte. Er spürte, wie Übelkeit in ihm aufstieg, als sich der Anflug einer Erinnerung zwischen das Einschlagen des Kreuzes und das Graben des Lochs spannte. Seine Handflächen wurden feucht, obwohl die Tätigkeit nur wenig körperliche Anstrengung erforderte.
Isabel beobachtete von hoch oben auf der Klippe aus, wie die Windward Spirit anlegte. Ralph und Bluey würden den Weg auch allein finden. Also überflüssig, sie zu begrüßen. Sie klappten die Landungsbrücke aus, und zu Isabels Überraschung folgte ihnen ein dritter Mann von Bord. Es wurden doch keine Mechaniker erwartet …
Tom kam den Pfad hinauf, während die anderen drei am Bootssteg warteten. Der Fremde, der eine schwarze Tasche bei sich hatte, schien nach der Überfahrt Schwierigkeiten zu haben, das Gleichgewicht wiederzufinden.
Isabels Gesicht war verzerrt vor Wut, als Tom sich näherte. »Wie kannst du es wagen!«
Tom zuckte zusammen. »Was wagen?«
»Du hast es getan, obwohl ich es dir verboten habe! Nun, du kannst ihn gleich wieder wegschicken. Er braucht gar nicht erst heraufzukommen. Er ist hier unerwünscht.«
Isabel sah immer aus wie ein Kind, wenn sie wütend war. Am liebsten hätte Tom losgelacht, und sein Grinsen erzürnte sie noch mehr. Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Ich habe dir gesagt, dass ich keinen Arzt brauche, und du hast hinter meinem Rücken einen gerufen. Ich werde nicht zulassen, dass er an mir herumfingert und mir Dinge sagt, die ich ohnehin schon weiß. Du solltest dich schämen! Tja, dann kümmere dich mal allein um deine Gäste.«
»Izzy!«, rief Tom ihr nach. »Izzy, warte. Schmoll jetzt nicht, Liebling. Das ist kein …« Doch sie war bereits außer Hörweite.
»Nun?«, fragte Ralph, als er Tom eingeholt hatte. »Wie hat sie reagiert? Wahrscheinlich macht sie vor Freude Luftsprünge!«
»Nicht unbedingt.« Tom steckte die Fäuste in die Hosentaschen.
»Aber …« Ralph musterte ihn verdattert. »Ich dachte wirklich, sie würde sich freuen. Hilda hat ihren ganzen Charme einsetzen müssen, um ihn zu überreden herzukommen, und normalerweise ist meine Frau mit ihrem Charme nicht sehr freigiebig.«
»Sie …« Tom überlegte, ob er es ihm erklären sollte. »Sie hat es in den falschen Hals gekriegt. Tut mir leid. Jetzt bockt sie. Und wenn das passiert, kann man nur die Luken verriegeln und warten, bis der Sturm vorüberzieht. Was, wie ich fürchte, heißt, dass ich die Brote fürs Mittagessen selbst schmieren muss.«
Bluey und der Mann kamen näher, und nachdem alle einander vorgestellt worden waren, gingen die vier ins Haus.
Isabel saß auf der Wiese unweit der Bucht, die sie »Gefährliche Bucht« genannt hatte. Sie kochte vor Wut. Es war eine Schande, ihre schmutzige Wäsche vor
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