Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
beobachtet wie Motten in einem Glas, und es gibt kein Entrinnen. Schließlich kann man einen Leuchtturm nicht jedem x-Beliebigen anvertrauen.
Die Protokollbücher erzählen die Lebensgeschichte des Leuchtturmwärters in ordentlicher Handschrift. Die genaue Minute, in der die Lampe angezündet wurde, die genaue Minute, in der er sie am nächsten Morgen gelöscht hat. Das Wetter. Vorbeifahrende Schiffe. Welche haben Signale abgesetzt und welche sich durch raue See gekämpft, zu sehr mit den Wellen beschäftigt, um per Morse oder – manchmal kam es noch immer vor – Flaggenzeichen mitzuteilen, woher sie kamen oder wohin sie wollten? Hin und wieder gestattet sich ein Leuchtturmwärter die kleine Freiheit, den Anfang eines neuen Monats mit einer Wellenlinie oder einem Schnörkel zu markieren. Oder er hält schlau fest, der Leuchtturminspektor habe seinen Sonderurlaub als Lohn für lange Dienstzeit genehmigt, denn schließlich ist alles, was geschrieben steht, in Stein gemeißelt. Doch weiter gehen die Freiheiten nicht. Das Protokollbuch ist so etwas wie das Evangelium. Janus ist keine Niederlassung einer Versicherungsgesellschaft. Die Schiffe erwarten hier keine Vorhersagen. Also ist es unwahrscheinlich, dass irgendjemand noch einmal einen Blick in das Buch wirft, wenn Tom es abgeschlossen hat. Dennoch wird er beim Schreiben von einer eigenartigen Ruhe ergriffen. Die Windstärke wird noch nach demselben Prinzip gemessen wie im Zeitalter der Segelschiffe: » ruhig (0–2, ausreichend für Frachter) « bis » Orkan (12 – kein Segel hält mehr stand, nicht einmal bei voller Fahrt) «. Tom liebt diese Sprache. Wenn er sich an das Chaos erinnert, an die Jahre, in denen die Tatsachen zurechtgebogen wurden und man unmöglich wissen, geschweige denn beschreiben konnte, was passierte, wenn Explosionen den Boden ringsherum erbeben ließen, genießt er den Luxus, einfache Wahrheiten zu Papier zu bringen.
Deshalb war es das Protokollbuch, das Tom an dem Tag, als das Boot eintraf, zuerst in den Sinn kam. Es war ihm in Fleisch und Blut übergegangen, jede Kleinigkeit, die wichtig werden konnte, zu melden, und zwar nicht nur weil ihn die Dienstvorschriften dazu verpflichteten, sondern auch die Gesetze des Commonwealth. Die Informationen, die er beisteuerte, mochten nur ein winziges Teilchen eines Puzzlespiels sein, doch nur er konnte sie liefern. Und deshalb war es von Bedeutung, dass er es tat. Eine Leuchtkugel, eine Rauchfahne am Horizont, ein Stück angespültes Metall, das vielleicht von einem Wrack stammte – alles wurde in seiner gleichmäßigen und gut leserlichen Handschrift vermerkt, deren Buchstaben sich sanft und ruhig nach rechts neigten.
Er saß an seinem Schreibtisch unter dem Laternenraum, wo sein treuer Füllfederhalter wartete, um den Tag zu dokumentieren. Ein Mann war tot. Menschen mussten benachrichtigt und Nachforschungen angestellt werden. Er zog mehr Tinte auf, obwohl der Füller noch fast voll war, las noch ein paar Eintragungen auf den vorangegangenen Seiten nach und blätterte dann zurück zu seinem allerersten Eintrag an jenem grauen Mittwoch, an dem er sechs Jahre zuvor auf Janus eingetroffen war. Seitdem war ein Tag auf den anderen gefolgt wie der Wechsel der Gezeiten, und noch nie – ganz gleich, wie erschöpft er wegen dringender Reparaturen, Nachtwachen während eines Unwetters, der Grübeleien, was er hier eigentlich tat, oder an den verzweifelten Tagen, an denen Isabel wieder eine Fehlgeburt gehabt hatte, auch gewesen war – war es ihm so schwergefallen, einen Eintrag zu Papier zu bringen. Aber sie hatte ihn angefleht, noch einen Tag zu warten.
Seine Gedanken kehrten zu dem Nachmittag vor nur zwei Wochen zurück, als er vom Angeln zurückgekehrt und von Isabels Schreien empfangen worden war: »Tom! Tom, mach schnell!« Er stürmte in die Hütte und fand sie auf dem Küchenboden vor.
»Tom! Etwas stimmt da nicht«, stieß sie unter Stöhnen hervor. »Es kommt! Das Baby kommt.«
»Bist du sicher?«
»Natürlich bin ich nicht sicher!«, zischte sie. »Ich weiß nicht, was los ist! Ich habe nur … O mein Gott, Tom, es tut so weh!«
»Ich helfe dir auf«, schlug er entsetzt vor und kniete sich neben sie.
»Nein! Beweg mich nicht.« Sie keuchte, rang mit den Schmerzen um jeden Atemzug und japste beim Sprechen. »Es tut so weh. O Gott, es soll aufhören!«, schluchzte sie, während Blut durch ihr Kleid und auf den Boden sickerte.
Diesmal war es anders als zuvor. Isabel war fast im
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