Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
verbergen, ging er rasch ein paar Schritte weiter. »Aber das ist kein guter Sitzplatz.«
»Warum nicht?« Sie schluchzte. »Es ist mein ganz besonderer Sitzplatz. Er hat Zauberkräfte.«
»Weil …« Er drückte ihr Köpfchen an seinen Hals. »Weil es eben kein guter Sitzplatz ist, Kleines.« Er küsste sie auf den Scheitel.
»War ich ungezogen?«, fragte Lucy verdattert.
»Nein, nicht ungezogen. Du nicht, Lulu.« Er küsste ihre Wange und strich ihr das helle Haar aus den Augen.
Doch als er sie so im Arm hielt, wurde ihm zum ersten Mal seit Jahren wirklich bewusst, dass dieselben Hände, die sie nun berührten, ihren Vater in sein Grab gelegt hatten. Mit geschlossenen Augen erinnerte er sich daran, wie sich seine Muskeln angefühlt hatten, und an das Gewicht des Mannes, das er nun mit dem seiner Tochter verglich. Lucy erschien ihm plötzlich schwerer.
Er spürte, dass ihm jemand auf die Wange klopfte. »Dadda! Schau mich an!«, rief das Kind.
Tom schlug die Augen auf und betrachtete sie schweigend. Dann holte er tief Luft. »Komm, wir bringen Flossie nach Hause. Möchtest du das Seil halten?«, fragte er.
Sie nickte. Er wickelte ihr das Seil um die Hand und trug sie auf der Hüfte den Hügel hinauf.
Am Nachmittag wollte Lucy auf einen Stuhl klettern. Doch zuerst drehte sie sich zu Tom um. »Ist das ein guter Sitzplatz, Dadda?«
Er blickte nicht von der Türklinke auf, die er gerade reparierte. »Ja, Das ist ein guter Sitzplatz, Lulu«, antwortete er, ohne nachzudenken.
Als Isabel sich neben sie setzen wollte, stieß Lucy einen Schrei aus. »Nein! Mama, nicht auf diesen Stuhl! Das ist kein guter Sitzplatz.«
Isabel lachte auf. »Ich sitze doch immer dort, Schätzchen. Ich finde den Stuhl wunderschön.«
»Es ist kein guter Platz, sagt Dadda!«
»Wovon redet sie, Dadda?«
»Das erkläre ich dir später«, erwiderte er und griff zum Schraubenzieher, in der Hoffnung, dass Isabel es vergessen würde.
Doch weit gefehlt.
»Was sollte dieses Palaver, wer wo sitzen darf?«, fragte Isabel, nachdem sie Lucy zu Bett gebracht hatte. »Gerade hat sie sich schrecklich angestellt, weil ich mich auf ihr Bett gesetzt habe, um ihr eine Gutenachtgeschichte zu erzählen. Sie meinte, du würdest sehr böse werden.«
»Ach, nur ein Spiel, das sie erfunden hat. Wahrscheinlich denkt sie morgen nicht mehr daran.«
Doch Lucy hatte an diesem Nachmittag den Geist von Frank Roennfeldt geweckt, und die Erinnerung an sein Gesicht verfolgte Tom, sobald er in Richtung der Gräber blickte.
»… ehe Du nicht selbst Vater bist …« Er hatte viel über Lucys Mutter nachgedacht, begriff aber erst jetzt, wie sehr er sich an ihrem Vater versündigt hatte. Seinetwegen war er im Tod nicht von einem Priester oder Pastor begleitet worden. Niemals würde er, zumindest in der Erinnerung, in Lucys Herzen weiterleben. Einen Moment lang hatten nur ein paar Meter Sand Lucy von ihrer wahren Herkunft getrennt – von Roennfeldt und Generationen seiner Vorfahren. Tom wurde eiskalt bei der Vorstellung, dass er vielleicht sogar – und das war gar nicht so unwahrscheinlich – Verwandte des Mannes getötet hatte, der ihr Erzeuger war. Plötzlich erhoben sich, lebensecht und anklagend, die Gesichter der Feinde aus dem Grab in seinem Gedächtnis, in das er sie verbannt hatte.
Als Isabel und Lucy am nächsten Morgen die Eier einsammeln gingen, machte sich Tom daran, das Wohnzimmer aufzuräumen. Er verstaute Lucys Stifte in einer Keksdose und schichtete ihre Bücher zu einem Stapel. Darunter befand sich auch das Gebetbuch, das Ralph ihr zur Taufe geschenkt hatte und aus dem Isabel ihr oft vorlas. Er blätterte die zarten Seiten mit dem Goldrand durch. Morgengebete, Kommunion … Sein Blick blieb an dem 37. Psalm hängen, » Noli aemulari «. »Entrüste dich nicht über die Bösen, sei nicht zornig auf die Übeltäter. Denn wie Gras verwelken sie rasch, verdorren wie das grüne Kraut .«
Isabel, die das kleine Mädchen huckepack trug, und Lucy kehrten lachend zurück. »Oh, ist das sauber hier! Waren die Heinzelmännchen da?«, fragte Isabel.
Tom klappte das Buch zu und legte es oben auf den Stapel. »Ich versuche nur, ein wenig Ordnung zu schaffen«, erwiderte er.
Ein paar Wochen später saßen Ralph und Tom, die gerade die letzten Septembervorräte ausgeladen hatten, an die Steinmauer des Lagerschuppens gelehnt da. Bluey war unten am Schiff und reparierte etwas an der Ankerkette. Isabel und Lucy buken in der Küche Lebkuchenmänner. Es war
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