Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
Warum fragst du nicht Püppi selbst?«
Sie beugte sich vor, um der Puppe etwas zuzuflüstern. »Sie sagt Nein. Du bist nur mein Dadda.«
Inzwischen hatte sie kein pausbäckiges Gesichtchen mehr, und es war bereits zu erahnen, wie sie später einmal aussehen würde – blondes Haar, anstatt dunkles wie am Anfang, aufmerksam dreinblickende Augen und helle Haut. Er fragte sich, wann sie anfangen würde, ihrer Mutter oder ihrem Vater zu ähneln. Er dachte an das Gesicht des blonden Mannes, den er begraben hatte. Grauen kroch ihm die Wirbelsäule hinauf, als er sich ausmalte, dass sie im Laufe der Jahre wohl schwierigere Fragen stellen würde. Wenn er selbst in den Spiegel schaute, konnte er inzwischen Ähnlichkeiten mit seinem eigenen Vater in diesem Alter feststellen. Und in Lucys Fall bedeutete Ähnlichkeit eine Gefahr. Partageuse war klein: Auch wenn eine Mutter ein Kleinkind nicht als ihr Baby wiedererkannte, würde sie sicher Anteile von sich selbst in einer erwachsenen Frau wahrnehmen. Die Vorstellung quälte ihn. Tom tunkte den Lappen in die Dose mit der Polierpaste und wienerte weiter, bis ihm der Schweiß in die Augenwinkel rann.
An diesem Abend lehnte Tom am Pfosten der Veranda und beobachtete, wie der Wind die Sonne in die Nacht hinausblies. Er hatte die Lampe bereits angezündet, und nun gab es bis zum Morgengrauen im Leuchtturm nichts mehr zu tun. Immer wieder hatte er über Ralphs Rat nachgegrübelt. Bring in Ordnung, was du heute ausbügeln kannst.
»Da bist du ja, Liebling«, sagte Isabel. »Sie schläft. Ich musste ihr dreimal Aschenputtel vorlesen!« Sie legte den Arm um Tom und lehnte sich an ihn. »Es ist so niedlich, wenn sie tut, als würde sie lesen, und dabei die Seiten umblättert. Sie kennt die Geschichten auswendig.«
Als Tom nicht antwortete, küsste Isabel ihn unters Ohr. »Wir können ja auch früh zu Bett gehen. Ich bin zwar müde, aber nicht zu müde …«
Er blickte noch immer hinaus aufs Wasser. »Wie sieht Mrs. Roennfeldt denn aus?«
Isabel brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass er Hannah Potts meinte. »Warum um alles in der Welt interessiert dich das?«
»Dreimal darfst du raten.«
»Sie sieht überhaupt nicht aus wie Lucy! Lucy ist blond und hat blaue Augen – offenbar hat sie das von ihrem Vater.«
»Nun, von uns hat sie es ganz sicher nicht.« Er drehte sich zu ihr um. »Izzy, wir müssen etwas tun. Wir müssen es ihr sagen.«
» Lucy? Sie ist doch noch viel zu klein …«
»Nein, Hannah Roennfeldt.«
Isabel starrte ihn entsetzt an. »Aber weshalb denn?«
»Sie muss es erfahren.«
Isabel erschauderte. In ihren dunklen Momenten hatte sie sich gefragt, was schlimmer war – die eigene Tochter für tot zu halten oder zu wissen, dass sie lebte, dass man sie aber nie wiedersehen würde? Doch ihr war klar, dass es fatale Folgen haben würde, wenn sie Tom auch nur ansatzweise zustimmte. »Tom, wir haben dieses Thema schon so oft durchgekaut. Es ist einfach nicht richtig, dein schlechtes Gewissen wichtiger zu nehmen als Lucys Wohlergehen.«
» Schlechtes Gewissen? Um Himmels willen, Isabel, wir sprechen hier nicht davon, dass ich Sixpence bei der Kollekte stibitzt habe, sondern vom Leben eines Kindes! Und außerdem von dem einer Frau. Sie bezahlt für jede Minute unseres Glücks. Und das kann nicht richtig sein, ganz gleich, wie wir es auch zu rechtfertigen versuchen.«
»Tom, du bist müde, traurig und durcheinander. Morgen früh denkst du sicher anders. Ich möchte heute Abend nicht mehr darüber reden.« Sie berührte seine Hand und bemühte sich, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Die Welt, in der wir leben, ist nicht perfekt. Damit müssen wir uns abfinden.«
Er sah sie an und hatte plötzlich das Gefühl, dass sie gar nicht existierte. Vielleicht existierte diese ganze Situation ja nicht, denn die schmale Kluft zwischen ihnen trennte zwei völlig unterschiedliche Wirklichkeiten voneinander. Und die hatten keine Berührungspunkte mehr.
Besonders gern betrachtet Lucy die Fotos, die sie als Baby während ihres Besuchs in Partageuse zeigen. »Das bin ich!«, teilt sie Tom mit, während sie auf seinem Knie sitzt und auf das Foto auf dem Tisch weist. »Aber damals war ich noch klein. Jetzt bin ich ein großes Mädchen.«
»Das bist du wirklich, Schatz. Bald wirst du vier.«
»Und das«, verkündet sie und deutet selbstbewusst mit dem Finger, »ist Mamas Mama!«
»Richtig. Mamas Mama ist deine Oma.«
»Und das ist Daddas Dadda.«
»Nein, das
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