Das Lied der Dunkelheit
zurechtzupfte.
»Leesha!«, rief ihr Vater und breitete die Arme aus. Dankbar warf sie sich an seine Brust und dachte daran, dass sie dieses kleine Ritual vielleicht zum letzten Mal vollzogen.
»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich Erny. »Ich habe gehört, dass es auf dem Markt Ärger gegeben hat.«
In einem so winzigen Ort wie dem Tal der Holzfäller gab es nur wenige Geheimnisse. »Es ist nichts Dramatisches passiert«, entgegnete sie. »Dafür habe ich gesorgt.«
»Du kümmerst dich rührend um jeden Einzelnen hier, Leesha«, meinte Erny und drückte sie fest an sich. »Ich weiß wirklich nicht, wie wir ohne dich auskommen sollten.«
Leesha fing an zu schluchzen. »Na, na, deshalb brauchst du doch nicht gleich zu weinen«, tröstete Erny seine völlig aufgelöste Tochter. Mit dem Zeigefinger tupfte er eine Träne von
ihrer Wange und schnippte sie fort. »Trockne deine Augen und geh ins Haus. Ich prüfe die Siegel, und dann reden wir bei einer Schale von deinem köstlichen Eintopf darüber, was dich bedrückt.«
Leesha lächelte unter Tränen. »Lässt Mutter immer noch das Essen anbrennen?«
»Natürlich, Kochen hat sie auch in all den Jahren nicht gelernt. Bei ihr verschmort alles, was aufgehört hat, sich zu bewegen«, versetzte Erny trocken. Unwillkürlich musste Leesha lachen, und während ihr Vater die Siegel kontrollierte, deckte sie den Tisch.
»Ich gehe nach Angiers«, kündigte Leesha an, nachdem das Geschirr abgeräumt war, »um bei einer von Brunas ehemaligen Schülerinnen meine Ausbildung fortzusetzen.«
Erny schwieg eine lange Zeit. »Ich verstehe«, sagte er schließlich. »Und wann geht es los?«
»Sobald Marick aufbricht. Schon morgen.«
Erny schüttelte den Kopf. »Ich lasse nicht zu, dass meine Tochter eine Woche lang nur in Begleitung eines Kuriers auf offener Straße unterwegs ist. Ich werde einen Begleittrupp anheuern. Das ist sicherer.«
»Ich passe gut auf, dass die Dämonen mich nicht kriegen, Dad«, erwiderte Leesha.
»Nicht nur die Horclinge machen mir Sorgen, Leesha«, ergänzte Erny mit Nachdruck.
»Mit Marick werde ich schon fertig«, versicherte das Mädchen.
»Sich in dunkler Nacht gegen die Übergriffe eines Mannes zu wehren, ist nicht dasselbe, wie mitten auf dem Marktplatz
einen Streit zu beenden«, hielt Erny ihr entgegen. »Du kannst keinen Kurier blenden und dann noch hoffen, jemals lebend von der Straße wegzukommen. Warte noch ein paar Wochen, ich bitte dich inständig.«
Leesha schüttelte den Kopf. »Da gibt es ein Kind, das ich schleunigst behandeln muss.«
»Dann komme ich mit dir«, verkündete Erny.
»Du wirst nichts dergleichen tun, Ernal«, mischte sich Bruna ein. »Leesha muss diese Sache allein durchstehen.«
Erny starrte die Alte an, und es kam zu einem Austausch von finsteren Blicken. Alles lief darauf hinaus, wer von beiden den stärkeren Willen besaß, doch im ganzen Tal der Holzfäller gab es niemanden, der es an Willenskraft mit Bruna aufnehmen konnte, und schon bald senkte Erny die Lider.
Kurz darauf begleitete Leesha ihren Vater nach draußen. Er wollte noch nicht gehen, und sie hätte ihn gern noch ein Weilchen für sich gehabt, aber der Himmel färbte sich bereits dunkel, und wenn Erny rechtzeitig daheim sein wollte, musste er sich beeilen.
»Wie lange wirst du fortbleiben?«, erkundigte sich Erny. Er umklammerte das Geländer der Veranda und schaute in die Richtung, in der Angiers lag.
Leesha zuckte die Achseln. »Es hängt davon ab, wie viel Meisterin Jizell mir noch beibringen kann, und wie viel Vika, die Schülerin, die im Austausch gegen mich hierherkommt, noch von Bruna lernen muss. Einige Jahre wird es gewiss dauern, bis ich wieder zu Hause bin.«
»Ich denke, wenn Bruna so lange ohne dich auskommt, dann werde ich die paar Jährchen wohl auch auf dich verzichten können.«
»Versprich mir, dass du die Siegel an ihrem Haus überwachst, während ich weg bin«, bat Leesha und berührte seinen Arm.
»Das ist doch selbstverständlich«, entgegnete Erny, drehte sich zu ihr um und schloss sie in die Arme.
»Ich hab dich lieb, Dad!«
»Ich dich auch, mein Herzblatt«, erwiderte Erny und presste sie so fest an seine Brust, als wollte er sie erdrücken. »Morgen früh sehen wir uns wieder«, kündigte er an, ehe er in die herabsinkende Dämmerung hineinmarschierte.
»Dein Vater hat Recht, weißt du«, meinte Bruna, als Leesha ins Haus zurückkam.
»Tatsächlich?«, wunderte sich Leesha, die sich nicht sicher war, worauf
Weitere Kostenlose Bücher