Das Lied der Dunkelheit
Jizell besaß eine wesentlich größere Sammlung, und die anderen Kräutersammlerinnen in Angiers konnten ihr zu noch viel mehr Lektüre verhelfen, sofern sie bereit waren, ihr Wissen mit ihr zu teilen.
Doch als der Zeitpunkt der Abreise näher rückte, hatte Leesha plötzlich das Gefühl, sie könne nicht mehr frei atmen. Wo blieb ihr Vater? Wollte er sich nicht von ihr verabschieden?
»Gleich ist es so weit«, meinte Bruna. Leesha sah sie an und merkte, dass die Augen ihrer greisen Lehrerin feucht waren.
»Wir sollten einander schon Lebewohl sagen«, fuhr die Alte fort. »Wahrscheinlich werden wir uns nie wiedersehen.«
»Bruna, was faselst du da?«, ärgerte sich Leesha.
»Mir brauchst du nichts vorzumachen, Mädchen«, erwiderte Bruna. »Du weißt genau, dass ich Recht habe. Mir waren bereits zwei Lebensspannen vergönnt, aber selbst ich bin nicht unsterblich.«
»Bruna«, setzte Leesha an, »ich muss nicht gehen. Ich kann auch hier bleiben …«
»Blödsinn«, knurrte Bruna und wedelte mit der Hand. »Ich habe dir alles beigebracht, was ich weiß, und von mir kannst du nichts mehr lernen. Betrachte die kommenden Jahre als mein letztes Geschenk an dich. Geh zu Jizell«, beharrte sie, »und setze bei ihr deine Ausbildung fort.«
Sie breitete die Arme aus, und Leesha ließ sich hineinfallen. »Versprich mir nur, dass du dich um meine Kinder kümmern wirst, wenn ich einmal nicht mehr bin. Sie können einfältig und starrköpfig sein, aber wenn die Nacht am finstersten ist, kommt das Gute in ihnen zum Vorschein.«
»Ich werde mich um sie kümmern«, versprach Leesha. »Und du wirst stolz auf mich sein.«
»Davon bin ich überzeugt, Kind«, entgegnete Bruna. »Du gibst immer dein Bestes, du kannst gar nicht anders.«
Leesha schluchzte in Brunas Umschlagtuch aus grober Wolle. »Ich habe Angst, Bruna«, gestand sie.
»Du wärst eine Närrin, wenn du keine Angst hättest«, meinte Bruna. »Aber ich habe selbst eine ganze Menge von der Welt gesehen, und mir ist nichts begegnet, das dich überfordern würde.«
Bald danach traf Marick mit seinem Pferd ein. Der Kurier trug einen neuen Speer in der Hand, und sein mit Siegeln versehener Schild hing am Sattelhorn. Wenn die Prügel, die er tags zuvor eingesteckt hatte, ihm noch Schmerzen bereiteten, so ließ er sich nichts anmerken.
»Ay, Leesha!«, rief er, als er sie sah. »Bist du bereit für dein Abenteuer?«
Abenteuer. Das Wort verscheuchte ihre Traurigkeit und ihre Angst und jagte ihr einen erwartungsvollen Schauer über den Rücken.
Marick nahm Leeshas Taschen und befestigte sie auf dem Rücken seines schlanken Angieranischen Renners, während sich Leesha ein letztes Mal der alten Kräutersammlerin zuwandte. »Nun troll dich, Mädchen! Für Abschiedsszenen, die einen halben Tag dauern, bin ich zu alt«, brummte sie. »Pass gut auf dich auf, mein Kind!«
Die Alte drückte ihr einen Beutel in die Hand, und Leesha hörte das Klirren von Milneser Münzen, die in Angiers ein Vermögen wert waren. Bevor Leesha protestieren konnte, drehte Bruna sich um und schlurfte ins Haus zurück.
Rasch verstaute sie den Beutel in einer Tasche ihres Gewandes. Der Anblick von Metallmünzen so weit von Miln entfernt konnte jeden Mann in Versuchung führen, selbst einen Kurier. Marick ging an der linken Seite des Pferdes, Leesha an der rechten, und so marschierten sie den Weg in den Ort hinunter, um an die Hauptstraße zu gelangen, die nach Angiers führte. Als sie an Leeshas Elternhaus vorbeikamen, rief das Mädchen nach ihrem Vater, doch sie erhielt keine Antwort. Elona, die draußen stand, sah sie, doch sie verschwand wortlos im Haus und knallte die Tür hinter sich zu.
Betroffen ließ Leesha den Kopf hängen. Sie hatte fest damit gerechnet, Erny vor ihrer Abreise noch einmal zu sehen. Sie dachte an die vielen Leute aus dem Tal der Holzfäller, denen sie jeden Tag begegnete, und dass sie keine Zeit gehabt hatte, sich ordentlich von ihnen zu verabschieden. Die Briefe, die sie bei Bruna zurückgelassen hatte, kamen ihr unzulänglich vor.
Aber als sie dann die Ortsmitte erreichten, schnappte Leesha vor Überraschung nach Luft. Dort wartete ihr Vater auf sie, und hinter ihm stand längs der Straße die gesamte Einwohnerschaft
Spalier. Als sie vorbeiging, kamen die Leute einer nach dem anderen zu ihr gelaufen, manche küssten sie, andere drückten ihr Geschenke in die Hand. »Vergiss uns nicht und komm bald zurück«, bat Erny. Leesha umarmte ihn fest und blinzelte die
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