Das Lied der Dunkelheit
»Sie machten sich ein Vergnügen daraus, mir diese Exemplare zu Studienzwecken zu bringen. Und ich habe noch mehr herausgefunden. Diese Dämonen haben keine Fortpflanzungsorgane. Sie sind weder männlich noch weiblich.«
Der Tätowierte Mann war verdutzt. »Wie ist das möglich?«, fragte er.
»Bei Insekten kommt das häufig vor«, belehrte sie ihn. »Es gibt geschlechtslose Kasten, die Arbeiter und die Krieger, und fortpflanzungsfähige Kasten, die im Schwarm eine beherrschende Stellung einnehmen.«
»Schwarm?«, hakte der Tätowierte Mann nach. »Du meinst den Horc?«
Leesha zuckte mit den Schultern.
Der Tätowierte Mann blickte nachdenklich drein. »In den Gräbern von Anochs Sonne gibt es Wandgemälde; Bilder vom Ersten Dämonenkrieg, auf dem seltsame Horclinge dargestellt sind, wie ich sie noch nie gesehen habe.«
»Kein Wunder«, meinte Leesha. »Wir wissen so gut wie nichts über sie.«
Sie griff nach seiner Hand. »Mein ganzes Leben lang habe ich mich gefühlt, als sei ich zu Höherem berufen, als nur Tränke gegen Erkältungen zu brauen und als Hebamme zu wirken. Dies ist meine Chance, nicht nur einer Handvoll Menschen zu beizustehen, sondern vielleicht der gesamten Menschheit. Du glaubst, dass es einen Krieg geben wird? Nun, Rojer und ich können dir helfen, ihn zu gewinnen!«
Der Tätowierte Mann nickte und erwiderte den Druck ihrer Hand. »Du hast Recht«, meinte er. »Das Dorf hat diese erste Nacht nicht nur durch mein Eingreifen überlebt, sondern auch, weil Roger und du da waren. Ich wäre ein Narr, wenn ich eure Hilfe ausschlagen würde.«
Leesha trat vor ihn hin und griff in seine Kapuze. Ihre Hand fühlte sich kühl auf seinem Gesicht an, und einen Moment lang schmiegte er seine Wange an ihre Finger. »Diese Hütte ist groß genug für zwei«, flüsterte sie.
Seine Augen weiteten sich, und sie spürte, wie er sich verkrampfte.
»Warum macht dir das mehr Angst als gegen Dämonen zu kämpfen?«, fragte sie. »Bin ich so abstoßend?«
Der Tätowierte Mann schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht!«
»Was ist es dann?«, drängte sie. »Ich werde dich nicht von deinem Krieg abhalten.«
Er schwieg eine Weile. »Wir wären bald zu dritt«, erwiderte er schließlich und ließ ihre Hand los.
»Wäre das so schlimm?«
Er holte tief Luft, ging zu einem anderen Tisch und vermied es, ihr in die Augen zu sehen. »An diesem Morgen, als ich mit dem Dämon rang …«, begann er.
»Ich erinnere mich«, betonte Leesha, als ihr das Schweigen zu lange andauerte.
»Der Dämon versuchte, in den Horc zurückzuflüchten.«
»Und er wollte dich mitziehen«, ergänzte Leesha. »Ich habe gesehen, wie ihr beide euch in Nebel verwandelt habt und in den Erdboden versunken seid. Ich hatte schreckliche Angst.«
Der Tätowierte Mann nickte mit dem Kopf. »Aber bestimmt nicht mehr als ich«, gab er zu. »Vor mir öffnete sich der Weg in den Horc und rief mich, zog mich hinunter.«
»Aber was hat das mit uns zu tun?«, fragte Leesha.
»Es war nicht der Dämon, der mich mitnahm, sondern umgekehrt«, flüsterte er. » Ich war verantwortlich für den Übergang; selbst jetzt noch kann ich den Sog des Horc fühlen. Wenn ich es wollte, könnte ich zusammen mit den anderen Horclingen in den verfluchten Schlund hinabtauchen.«
»Die Siegel …«, hob Leesha an.
»Es liegt nicht an den Siegeln«, widersprach er kopfschüttelnd. »Glaub mir, es liegt an mir . Im Laufe der Jahre habe ich zu viel von ihrer Magie in mich aufgenommen. Ich bin kein Mensch mehr. Wer weiß, was für ein Monster ich zeugen würde?«
Leesha ging zu ihm und umfasste sein Gesicht mit beiden Händen wie an dem Morgen, als sie sich geliebt hatten. »Du bist ein guter Mensch«, sagte sie, während ihr die Tränen in die Augen stiegen. »Was auch immer die Magie aus dir gemacht hat, daran hat sich nichts geändert. Und das ist das Einzige, was zählt.«
Sie beugte sich vor, um ihn zu küssen, doch er hatte sein Herz vor ihr verschlossen und schob sie zurück.
»Nicht für mich«, erklärte er. »Bevor ich nicht weiß, was aus mir geworden ist, wer ich bin, kann ich weder mit dir zusammen sein, noch mit jemand anders.«
»Dann werde ich herausfinden, was mit dir los ist«, behauptete Leesha. »Das schwöre ich dir.«
»Leesha«, wehrte er ab, »du darfst nicht …«
»Sag mir nicht, was ich darf oder nicht darf!«, schrie sie ihn an. »Andere Leute haben mir so viele Vorschriften gemacht, dass es für mein ganzes Leben reicht!«
Einlenkend
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