Das Lied der Dunkelheit
lachte gackernd. »Das ist wahr, das ist wahr«, räumte sie ein. »Aber davor gab es eine Zeit, da hatte ich genauso glatte, pralle Titten wie du, und die Männer kämpften wie Horclinge miteinander, nur um sie küssen zu dürfen.«
Leesha musterte Bruna kritisch und versuchte sich vorzustellen, wie sie als junge Frau ausgesehen haben mochte; doch es war eine hoffnungslose Angelegenheit. Selbst wenn man Übertreibungen und Ammenmärchen außer Acht ließ, so musste sie mindestens ein Jahrhundert alt sein. Wenn man sie rundheraus nach ihrem Alter fragte, gab sie nie eine klare Antwort, sondern erwiderte lediglich: »Als ich hundert wurde, habe ich aufgehört zu zählen.«
»Wie auch immer«, griff Leesha den Faden wieder auf. »Marick wird zwar eine Weile mit einem grün und blau geschlagenen Gesicht herumlaufen, aber es spricht nichts dagegen, dass er sich morgen auf den Weg macht.«
»Das ist gut«, freute sich Bruna.
»Hast du ein Heilmittel für den Jungen gefunden, der Meisterin Jizell so große Sorgen bereitet?«, erkundigte sich Leesha.
»Was würdest du ihr raten, wenn sie dich um deine Meinung bitten würde?«, lautete Brunas Gegenfrage.
»Dazu fällt mir nichts ein«, gab das Mädchen unumwunden zu.
»Wirklich nicht?«, beharrte Bruna. »Das nehme ich dir nicht ab, mein Kind. Komm schon, was soll ich deiner Ansicht nach Jizell sagen? Und tu bitte nicht so, als hättest du dir nicht längst den Kopf darüber zerbrochen.«
Leesha holte tief Luft. »Wahrscheinlich verträgt der Junge das Grimmwurz nicht«, legte sie dann los. »Das Mittel sollte man sofort absetzen, und die Eiterbeulen müssen aufgeschnitten und ausgetrocknet werden. Natürlich wird er dadurch nicht von seiner eigentlichen Krankheit geheilt. Das Fieber und die
Übelkeit könnten von einer gemeinen Erkältung stammen, aber die geweiteten Pupillen und das Erbrechen deuten auf etwas Ernsteres hin. Ich würde eine Behandlung mit Mönchskraut, Frauennadel und Natternrinde empfehlen, die vorsichtig angewendet mindestens eine Woche lang andauern sollte.«
Bruna sah sie eine geraume Weile nachdenklich an, dann nickte sie.
»Pack deine Sachen und verabschiede dich von den Leuten, die dir lieb und teuer sind«, bestimmte sie. »Du wirst Jizell deine Empfehlung persönlich überbringen.«
14
Die Straße nach Angiers
326 NR
J eden Nachmittag, ohne Ausnahme, suchte Erny Brunas Hütte auf. Im Tal der Holzfäller gab es sechs Bannzeichner, von denen jeder einen Lehrling ausbildete, doch Erny wollte die Sicherheit seiner Tochter keinem Fremden anvertrauen. Der schmächtige Papierhersteller galt als der beste Siegelzeichner im Ort, und niemand stellte dies in Frage.
Oftmals brachte er Geschenke mit, die Kuriere aus weit entfernten Regionen geliefert hatten: Bücher, besondere Kräuter und handgeklöppelte Spitze. Aber Leesha freute sich nicht wegen dieser schönen Gaben auf seine Besuche. Hinter den machtvollen Siegeln ihres Vaters schlief sie ruhiger, und zu sehen, wie er während der letzten sieben Jahre ein glücklicher und zufriedener Mensch geworden war, empfand sie als das großartigste aller Geschenke. Zwar machte Elona ihm immer noch Kummer - etwas anderes war auch nicht zu erwarten gewesen -, aber nicht mehr in dem Ausmaß wie früher.
Heute jedoch beobachtete Leesha den Stand der Sonne am Himmel und begriff, dass sie den Besuch ihres Vaters fürchtete. Ihr Fortgehen würde ihn zutiefst verletzen.
Auch ihr würde die Trennung von Erny schwerfallen. Ihr Vater war ihr stets Stütze und Halt gewesen, auf seine Liebe konnte sie sich verlassen, und aus diesem Bewusstsein schöpfte sie Kraft, wann immer das Leben sie vor Probleme stellte, die sie glaubte, nicht bewältigen zu können. Was sollte sie in Angiers ohne Erny anfangen? Auch Bruna würde ihr fehlen. Ob sie dort mit Leuten zusammentraf, die nicht nur die Heilerin in ihr sahen, sondern den Menschen, eine junge Frau mit Sehnsüchten, Ängsten und Gefühlen?
Doch ihre Befürchtung, sie könnte in Angiers isoliert und einsam sein, verblasste gegen ihre größte Sorge, die darin bestand, dass sie vielleicht nie wieder ins Tal der Holzfäller zurückkehren wollte, wenn sie erst einmal Geschmack an der großen, weiten Welt gefunden hätte.
Erst als Leesha ihren Vater sah, der auf Brunas Hütte zumarschierte, merkte sie, dass sie weinte. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und setzte ihr fröhlichstes Lächeln auf, während sie nervös ihre Röcke
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