Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
schaut die ganze Zeit voraus auf den Weg, während sie mit Grischa redet. » Ich weiß, dass dein Gehalt längst überfällig ist. «
» Ihr Vertrauen ehrt mich, gnädige Frau « , antwortet er nur.
» Du warst die ganze Zeit über so verständnisvoll. Aber allmählich merke ich, wie ich wieder zu Kräften komme, und fühle mich wieder in der Lage, Verantwortung zu übernehmen. Mit Konstantin Nikolajewitsch ist, wie du ja weißt, in dieser Beziehung nicht mehr zu rechnen. Oder besser gesagt, in jeder Beziehung. «
Grischa lässt die Bemerkung unerwidert.
» Soll ich dein Schweigen so deuten, dass du mich ebenfalls für unfähig hältst, Grischa? « , fragt Antonina, indem sie sich ein wenig im Sattel zu ihm umdreht, damit sie ihm ins Gesicht schauen kann. » Ich bin bereit zu lernen. Sei versichert, dass ich lernen werde, wie man ein Gut leitet. «
Grischa nickt. » Ich habe nicht den leisesten Zweifel, dass Sie die finanzielle Seite der Gutsverwaltung schnell begreifen werden, sobald Sie Zeit haben, sich damit zu befassen. Aber ist Ihnen bewusst, gnädige Frau, wie viele der ehemaligen Leibeigenen das Gut inzwischen verlassen haben? «
Antonina sieht erneut zu ihm hinüber. » Ich weiß, dass viele weggegangen sind, aber ein paar sind ja noch da und werden auch bleiben. « Sie sagt es so zuversichtlich wie möglich.
» Die Hausleibeigenen kehren meistens zu ihren Familien zurück « , fährt Grischa fort. » Und die ehemaligen Leibeigenen in den Dörfern sind dabei, mirs zu organisieren, gnädige Frau. Das sind Dorfgemeinschaften. Jede Familie, die Mitglied ist, bekommt einen Teil der gemeinschaftlichen Anbauflächen zugewiesen, den sie bestellt. Jeder arbeitet für das Wohlergehen der Gemeinschaft. So will es das neue Gesetz. Auch Sie, Gräfin, werden gezwungen sein, einen Großteil Ihres Landes an die Bauern zu verkaufen, an Ihre früheren Leibeigenen. Diese werden es gemeinsam bewirtschaften und den Gewinn gleichmäßig unter sich teilen. «
Antonina schweigt eine Weile. Ihr Vater und Konstantin hatten erbittert gegen das Manifest zur Leibeigenenbefreiung gekämpft. Immer hatten sie behauptet, dass die Befreiung der Leibeigenen die Grundbesitzer ihrer Armeen billiger Arbeitskräfte berauben würde, all jener Männer und Frauen, die sie benötigten, um ihre Ländereien zu bewirtschaften. Ihr dämmert allmählich, dass sie nicht genügend Fragen gestellt hat; sie kann niemand anders als sich selbst für ihre Ahnungslosigkeit verantwortlich machen. Stets hat sie die Art, wie ihr Vater und Gatte ihre Leibeigenen behandelten, verabscheut, aber nicht weiter über die Zusammenhänge nachgedacht. » Warte « , sagt sie. » Das heißt, das neue Gesetz zwingt mich dazu, ihnen Land zu verkaufen? Aber … kann ich das nicht selbst entscheiden? «
» Nun, ja, im Grunde können Sie selbst wählen, aber die Regierung wird Ihr Land so hoch besteuern, dass Sie kaum in der Lage sein werden, es zu unterhalten. Und ohne die Leibeigenen wird es Ihnen sowieso nichts nützen. Sie werden nicht mehr die jährlichen Abgaben von den Leibeigenen erhalten, und ohne Arbeitskräfte werden die Ernten ausbleiben, die Sie benötigen, um sich und alle, die noch auf dem Gut geblieben sind, zu ernähren. «
» Dann werde ich eben einen Teil des Landes verkaufen. Und mit den Einnahmen werde ich Angelkow weiter betreiben, und so in der Lage sein, alle, die von mir abhängig sind, zu ernähren und mit Kleidung zu versorgen « , verkündet sie.
Grischa stößt ein kurzes Lachen aus, das in der stillen Herbstluft nachhallt. » Genau so hat es sich der Zar vorgestellt. «
» Was willst du damit sagen? «
Grischa bringt sein Pferd zum Stehen, und Antonina wendet Dunja, sodass sie ihm ins Gesicht sehen kann. Die Pferde beschnuppern sich sanft, ihre Nasen berühren sich. » Gräfin Mitlowskaja. Wo, glauben Sie, werden Ihre ehemaligen Leibeigenen das Geld hernehmen, um Ihnen Land abzukaufen? «
» Wo, Grischa? «
Zum ersten Mal wirkt Grischa ihr gegenüber ungehalten. » Die Bauern haben kein Geld, Gräfin. « Seine Stimme klingt barsch. » Das dürfte Ihnen nichts Neues sein. Diese Leute besitzen nichts außer den Lumpen, die sie am Leib tragen. Nicht einmal die löchrigen Dächer über ihren Köpfen sind ihr eigen. Sie und die anderen Grundbesitzer werden also kein Geld für Ihr Land bekommen. Jedenfalls nicht in absehbarer Zeit. Man wird dem ehemaligen Leibeigenen ein Dokument vorlegen, und der macht sein Kreuz an der Stelle, auf die man
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