Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
begleiten, Lew sich weigern könnte, den Jungen auszuhändigen.
Aber Antonina widerspricht nicht. Sie wartet, fünf Minuten, dann zehn. Sie betrachtet den kleinen Dorfplatz, dessen Boden aus bloßer Erde besteht und der von der Kirche beherrscht wird. Die grüne Farbe der Kuppel ist nahezu abgeblättert. Hühner dösen auf den hölzernen Eingangsstufen der Kirche, ihre Federn sträuben sich im Wind. Ein hagerer Pfarrer in mittleren Jahren mit einem von grauen Fäden durchzogenen Bart und langen, verknäulten Haaren steht teilnahmslos in der Tür. Er trägt ein fadenscheiniges Talar und walenki, Filzstiefel. Im Gegensatz zu den unverheirateten Mönchen, die auf ein hohes Kirchenamt wie Bischof oder Erzbischof hoffen dürfen, sind einfache Dorfpfarrer zur Heirat verpflichtet, ehe sie die Priesterweihe erhalten. Aber da sie zu den Ärmsten im Dorf zählen – sie sind auf Almosen und die kargen Erträge angewiesen, die der winzige Garten hinter der Kirche abwirft –, haben sie es schwer, eine Frau zu finden. Meistens bleibt ihnen nur, die Tochter eines anderen Dorfpfarrers zu heiraten.
Sie beobachtet, wie Männer Karren, voll beladen mit Feuerholz und Säcken mit Wurzelgemüse, mühsam hinter sich herziehen. Auf den Türschwellen hocken alte Frauen und schälen Kartoffeln oder Zwiebeln. Dürre Hunde liegen vor den Hütten , während Ziegen mit gesenkten Köpfen auf der Suche nach ein paar mageren Halmen vorüberziehen. Junge Frauen, die ihr jüngstes Kind mit einem Schal auf den Rücken gebunden tragen, während die größeren Kinder neben ihnen her laufen, kommen an Antonina vorbei und beugen sich im Gehen nach vorn, um sich gegen den Wind zu stemmen. Die Dorfbewohner blicken verstohlen in ihre Richtung, und Antonina nimmt auf ihren Gesichtern einen Ausdruck wahr, der so anders ist als der, den sie ihr Leben lang gekannt hat. Statt Unterwürfigkeit und Angst spürt sie Groll. Vielleicht sogar Feindseligkeit.
Es ist, wie Grischa gesagt hat. Die Leibeigenen sind jetzt frei, aber hat sich ihr Leben verändert? Antonina mustert die armseligen Hütten mit ihren schadhaften Dächern, die ausgehungerten Tiere – überall nur Armut und Verzweiflung. Was hat ihnen die neu gewonnene Freiheit gebracht?
Irgendwann ist sie es leid zu warten und reitet langsam die schmale Straße entlang, die Tuschinsk durchteilt. Wie Grischa gesagt hat, ist sie von tiefen Rillen und Löchern übersät, und immer wieder stolpert Dunja.
Nach einer Weile hält sie an, weil sie Angst hat, die Stute könnte sich verletzen. Und als sie in eine Seitenstraße blickt, sieht sie Grischa. Er steht vor der Tür einer Hütte und spricht mit einem Mann, der ihr irgendwie bekannt vorkommt. Grischa hat ein Päckchen in der Hand.
Sie versucht sich zu erinnern, woher sie den Mann kennt – hat er nicht im Kuhstall oder einem der Kornspeicher gearbeitet? Als Dunja spürt, wie ihre Reiterin ihr die Zügel hingibt, setzt sich sie sich wieder in Bewegung. Da bemerkt Antonina ein gutes Stück vor ihr eine Frau mit einem Bündel Brennholz auf der Schulter. Und neben ihr geht ein Junge. Antonina starrt die Gestalten an, die ihr den Rücken zudrehen.
Der Junge ist Michail. Er trägt seinen Mantel. Selbst aus der Entfernung erkennt Antonina den mit blauer Wolle aufgestickten Namen, der sich über den rückseitigen Mantelsaum zieht. Und die blonden Haare des Jungen.
» Michail « , sagt Antonina ungläubig, und dann schreit sie, laut und hysterisch wie eine Verrückte: » Mischa! « In ihrer Panik reißt sie an den Zügeln, und im selben Moment, als sich Antonina vorbeugen will, um den Jungen besser zu erkennen, wirft Dunja den Kopf zurück. Der Pferdekopf trifft sie hart im Gesicht, und Antonina gleitet aus dem Sattel zu Boden, noch bevor das Pferd die Möglichkeit hat, stehen zu bleiben. Von dem Schlag wie betäubt fällt Antonina auf die Knie. Dann schüttelt sie den Kopf, rappelt sich wieder hoch und rennt auf die Frau zu, indem sie immer wieder Michails Namen schreit. Aber der Junge dreht sich nicht um. Und die Frau auch nicht.
Eine ihnen entgegenkommende Frau deutet auf Antonina, und erst da dreht sich die andere um. Als sie Antonina auf sich zulaufen sieht, öffnet sie den Mund zu einem lautlosen Schrei, sie lässt das Brennholz fallen, packt die Hand des Jungen und rennt mit ihm los.
Antonina bleibt mit den Reitstiefeln im tiefen Schlamm der gefurchten Straße stecken, stolpert und fängt sich wieder. Dennoch ist sie schneller als die Frau; vielleicht
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