Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
das zerwühlte Bett, das achtlos auf den Boden geworfene Handtuch neben der Waschschüssel, in der noch immer das gebrauchte Seifenwasser vom Morgen ist, das Nachthemd auf dem Boden neben dem Kleiderschrank.
Sie steht auf und öffnet das Fenster. Draußen ist es wärmer als drinnen; wahrscheinlich die letzte Hitze des Herbsts. Sie nimmt ein paar Schlucke Wodka aus der Flasche, die sie in ihrem Kleiderschrank aufbewahrt, und legt sich wieder auf das ungemachte Bett. Sie betrachtet ihre Fingernägel: Sie sind abgebrochen und haben Trauerränder von der Erde, in der sie gewühlt hat. Eine Fliege kommt durch das Fenster hereingeflogen, dann noch eine, und ein grimmiges Gesumm zerschneidet die warme, unbewegte Luft. Nach einer Weile dreht sie sich auf die Seite, schließt die Augen und hofft auf ein wenig Schlaf. Sie schiebt die Hand unter das Spitzenkissen, spreizt die Finger und genießt die wohltuende Kühle des Leinens. Mit dem Finger stößt sie an den kleinen Samtbeutel, den sie unter dem Kissen aufbewahrt.
Sie zieht ihn hervor, öffnet ihn und nimmt die Putte heraus, die an jenem Tag im Juni von der Kirchendecke zu ihr herabgefallen ist. Mit ihren schmutzigen Fingern fährt sie zärtlich über den kleinen vergoldeten Körper, die Flügel und winzigen Füße. Grischa hat den Flügel fachmännisch wieder an den Rumpf geklebt; die Bruchstelle ist kaum mehr zu sehen.
Den ganzen langen heißen Sommer hindurch hat sie sich ihre Hoffnung bewahrt, Michail wieder zurückzubekommen. Jeden Tag hat sie die Kirche besucht und mindestens eine Stunde lang gebetet, wenngleich sie keine Vision mehr hatte und kein weiteres Zeichen empfing.
Aus der Ferne ist Donnergrollen zu hören. Antonina legt die Hände um den Engel und drückt ihn an die Brust. Sie macht die Augen zu.
Über Nacht ist es kühler geworden. Am nächsten Morgen ist die Luft frisch, wenngleich die Sonne nach wie vor scheint.
Am Nachmittag steht Antonina auf der vorderen Veranda und sieht den Krähen in den Kiefern zu. Sie bemerkt, dass sich die Birken über Nacht verändert haben, ihre gelben Blätter erzittern heftig in der leichten Brise. Sie will nicht im Haus bleiben: Konstantin tobt und schreit herum, während Pawel ihn mit Chloroform zu beruhigen sucht.
Sie sieht, wie Grischa auf sein Pferd steigt, und ruft nach ihm. » Wo willst du hin, Grischa? «
» Ich habe in Tuschinsk etwas zu erledigen. « Sein Haar glänzt in der Sonne. Zum ersten Mal fällt Antonina auf, wie intensiv seine Farbe ist, so schwarz, dass es im Sonnenlicht bläulich wirkt.
» Wartest du auf mich? Ich reite mit dir. « Als sie die Worte ausspricht, wird ihr bewusst, wie sehr ihr das Reiten gefehlt hat. Den ganzen Sommer über ist sie nur einmal mit Dunja ausgeritten, nur für eine halbe Stunde. Ohne Ziel vor Augen erschien ihr der Ausritt müßig. Aber jetzt will sie fort von Konstantin und dem Gut, dessen trauriger Verfall überall zu spüren ist.
» Gräfin, ich habe, wie gesagt, etwas zu erledigen. Ich werde so schnell es geht reiten und ohne mich aufzuhalten wieder zurückkehren. Es wird alles andere als ein beschaulicher Ausritt. «
» Ich werde dich trotzdem begleiten « , sagt Antonina, bereits im Begriff, die Treppe hochzusteigen. » Ich ziehe mir nur rasch meine Reitkleidung an, ich brauche nicht länger als zehn Minuten. «
» Es wäre mir lieber, wenn Sie nicht … « Grischa lässt den Satz unbeendet in der Luft schweben. Er flucht leise in sich hinein.
Aber er weiß nicht, wie er es ihr ausreden soll.
» Ich habe eine Antwort vom Anwalt bekommen, von Jakowlew « , erzählt Antonina, als sie Seite an Seite im Schritt die Auffahrt entlang in Richtung Landstraße reiten. » Er trifft übermorgen ein und bringt sämtliche Papiere von Konstantin mit, um sie mit mir durchzugehen. Er muss mir sagen, wie ich an flüssige Mittel herankomme. «
» Das ist eine gute Nachricht, gnädige Frau « , sagt Grischa, und bei seinen Worten fällt Antonina wieder ein, dass sein Lohn längst fällig ist. Sie weiß, dass Konstantin ihn alle vier Monate bezahlt hat; doch seit Michails Entführung hat sie ihm kein Geld gegeben.
» Wollen Sie, dass ich mich ebenfalls mit ihm unterhalte? « , fragt Grischa. » Ich war schon häufig bei Beratungen zwischen ihm und dem Grafen dabei. «
» Das ist eine gute Idee. Du wärst mir bestimmt eine große Hilfe. Ich habe dir in letzter Zeit so viel Verantwortung aufgebürdet; es ist nicht fair, mich gänzlich auf dich zu verlassen, ohne … « Sie
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