Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
treibt die pure Verzweiflung sie an. Während sie hinter den beiden herläuft und immer wieder Mischas Namen schreit, treten Bauern aus ihren Hütten und starren sie an. Mütter ziehen ihre Kinder zu sich heran, einige Frauen verbergen das Gesicht hinter einem Zipfel ihres Kopftuchs.
» Stehen bleiben! « , ruft Antonina. » Bleiben Sie stehen! Sie haben meinen Sohn. « Die Frau läuft noch immer vor ihr weg, indem sie das Kind hinter sich herzerrt, das mit seinen nackten Füßen kaum mithalten kann. Doch dann hat Antonina sie eingeholt, sie packt sie an der Schulter und wirbelt sie zu sich herum.
Die Frau – sie ist jünger als Antonina – verliert das Gleichgewicht, fällt zu Boden und blickt zu ihr empor. Ihr Gesicht spiegelt eine Mischung aus Verwirrung und tiefer Furcht. Schützend hält sie einen Arm vors Gesicht, als erwartete sie, dass Antonina sie schlägt.
Der Junge kauert sich neben sie.
Antonina sieht ihn an, dann stößt sie ein Wimmern aus, einen langgezogenen Klagelaut. Sie spürt, wie ihr die Knie weich werden, schafft es jedoch irgendwie, sich auf den Beinen zu halten. Noch immer den gleichen angstvollen Ausdruck im Gesicht steht die Frau langsam auf.
Der blonde Junge ist nicht Michail. Rotz läuft aus seiner Nase. Ein eitriges Gerstenkorn sitzt im Winkel eines seiner runden dunklen Augen.
Antoninas Klagelaut erstirbt. Sie atmet tief durch und schließt die Augen, dann öffnet sie sie wieder und leckt sich die Lippen. Ihr Mund ist so trocken, als wäre er mit Wolle ausgeschlagen.
» Der Mantel des Jungen. « Endlich ist Antonina in der Lage zu sprechen. » Wo haben Sie den her? «
Während sie spricht, bemerkt sie den metallischen Geschmack im Mund. Es ist Blut, zu viel, um es zu schlucken, und sie spuckt es aus. Sie sieht den scharlachroten schaumigen Fleck im Straßenschlamm, wischt sich mit einer zittrigen Bewegung ihrer Hand Nase und Mund ab. Als sie die Hand wieder sinken lässt, ist sie blutverschmiert. Vielleicht hat Dunja ihr mit der ruckartigen Kopfbewegung die Nase gebrochen oder ihr einen Zahn ausgeschlagen. Sie weiß, dass mit ihrem Gesicht etwas nicht stimmt, aber sie hat keine Schmerzen.
Die Bäuerin starrt sie noch immer mit bebenden Lippen an.
Antonina fasst sie an den Schultern, schüttelt sie leicht. » Ich habe gefragt, wo Sie den Mantel herhaben. Sprechen Sie. Antworten Sie mir. « Als sie die Furcht im Gesicht der Frau bemerkt, bemüht sie sich, ihren Ton zu mäßigen. » Ich werde Ihnen nichts tun. Ich bin Gräfin Mitlowskaja. Ich besitze … « Sie hält inne. Weder besitzt sie noch dieses Dorf noch die Frau. » Ich … ich muss wissen, woher Sie den Mantel meines Kindes haben. «
Die Augen der Frau bewegen sich zu einem Punkt in Antoninas Rücken, und ein erleichterter Ausdruck erscheint auf ihrem Gesicht.
» Bitte. Ich bitte Sie, gnädige Frau! « , ruft eine tiefe Stimme. Als sich Antonina umdreht, bemerkt sie einen jungen Mann mit einer Axt in der Hand, der auf sie zugelaufen kommt. Sein Gesicht ist gerötet, und er keucht. » Meine Frau – und unser Sohn – sind taubstumm. Sie kann nicht verstehen, was Sie sagen. «
Antonina blinzelt verwirrt. » Der Mantel des Jungen « , sagte sie und sieht zuerst ihn und dann den Jungen an. » Ich … ich muss wissen, woher er ihn hat. «
Einen Moment lang schweigt der junge Mann. » Sie hat ihn nicht gestohlen, gnädige Frau. « Seine Brust hebt und senkt sich heftig. » Wir holen unsere Sachen in der Kirche, immer wenn ein Korb mit wohltätigen Spenden gebracht wird. «
Antonina ist unfähig, etwas zu erwidern.
» Gräfin Mitlowskaja « , sagt Grischa, der plötzlich neben ihr auftaucht. » Sie sind verletzt, Gräfin. «
Antonina wendet den Blick von dem jungen Mann ab und sieht Grischa an. Plötzlich pocht ein unerträglicher Schmerz in ihrem Gesicht, als wäre sie gerade eben erst von Dunjas Kopf getroffen worden. Zitternd streckt sie die Hand aus, um sich an Grischas Arm festzuhalten; ein heißer Schwindel erfasst sie, blendet sie, sodass sie die Augen schließen muss.
» Los, einen Stuhl « , sagt Grischa laut. Er stützt sie mit dem anderen Arm. » Oder noch besser, bringt der Gräfin eine Bank, los, macht schon! «
Antonina sackt in seine Arme, dann spürt sie, wie er sie auf eine harte Bank sinken lässt. Sie spürt ein Tuch an ihrer Nase; es riecht nach Seife und Leder.
Eine Krähe krächzt, ein Hund bellt, und Antonina öffnet die Augen. Es ist Grischa, der sein Taschentuch an ihr Gesicht hält. Sie
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