Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
sie ihn am vorigen Tag geohrfeigt hatte. Hatte er sie nie wirklich gekannt, oder machte der Kummer einen anderen Menschen aus ihr?
» In der Betriebskasse ist genug Geld, notfalls kommst du damit bis nach Irkutsk « , sagte sie. Sie machte sich nicht die Mühe, die Stimme zu senken. » Du musst Kolja suchen, bis du ihn gefunden hast, und dann bringst du ihn zu mir zurück. «
» Warum bist du dir so sicher, dass ich ihn finden werde? « , wagte Tima einzuwenden. Er spürte, wie Ärger in ihm aufstieg, ohne dass er ihn zu deuten vermochte. Er wusste, dass es seine Mutter verletzen würde, wenn er Zweifel äußerste, doch dieser plötzliche Anflug von Wut überdeckte seine Schuldgefühle. » Schließlich ist Irktusk ja keine Kleinstadt, oder nicht? Falls ich die Musiker nicht in einem der Dörfer einhole, wie soll ich sie da in einer großen Stadt finden? «
» So viele Orchester wird es dort nicht geben, und schon gar nicht mehrere kleine Jungen, die Geige spielen und neu in der Stadt sind. Du wirst ihn finden. « Sie sagte es mit einer solchen Gewissheit, dass Timofei nur noch nicken konnte. Er sagte: » Ja, ja, ich werde gehen, aber erst, wenn Papa … « Bevor er den Satz zu Ende sprach, wandte er den Rücken zur offen stehenden Tür. Doch Ula erwiderte, noch lauter als vorher, als wollte sie sichergehen, dass Aleksandr sie hören konnte: » Ja, sobald dein Vater dich nicht mehr braucht, wirst du aufbrechen und mir meinen Sohn zurückbringen. «
Aleksandr Danilowitsch Kasakow starb drei Tage nachdem Timofei zugesehen hatte, wie die Kutsche mit Kolja davonrumpelte.
Es waren drei Tage voller Schweigen und Gram: Timofei ging früh zur Arbeit und blieb so lange er konnte in der Werkstatt. Es graute ihm davor, zu Hause zu sein und zu sehen, wie sein Vater vom Husten geschüttelt wurde und Blut spuckte und seine Mutter leise in sich hineinweinte.
Aber am schlimmsten waren die letzten Worte, die er zu seinem Vater gesprochen hatte und die ihn auf Schritt und Tritt verfolgten.
Im Haus war es seltsam still ohne Aleksandrs unaufhörliches Husten.
Seine sterbliche Hülle lag in dem schmucklosen, grob gezimmerten Sarg, der auf Hockern in der Küche aufgebahrt war und von flackernden Kerzen eingerahmt wurde. Seine auf der Brust gefalteten Hände hielten ebenfalls eine Kerze, die sein Gesicht beschien. Timofei saß auf einer Bank. Er war angespannt, als wartete er jeden Moment auf ein Husten aus dem Sarg.
Am Vormittag waren einige von Aleksandrs Freunden gekommen, aber Ula hatte sie weder begrüßt noch ihnen Tee oder einen Stuhl angeboten. In unbehaglichem Schweigen standen sie eine Weile in dem kleinen, niedrigen Raum und gingen dann wieder.
Als sie wieder allein waren, ging Ula in ihr Schlafzimmer und ließ Timofei allein neben dem Sarg sitzen; offenbar hatte sie beschlossen, ihren verstorbenen Mann weder nach russischer Sitte neben seinem Sarg zu beweinen und zu beten, noch mit Räucherwerk und Sprechgesang auf buddhistische Art um ihn zu trauern. Timofei erinnerte sich an den Tod seines Großvaters, als er selbst zehn war. Damals hatte seine Mutter zu ihm gesagt, er solle nicht traurig sein, auch wenn es nicht schlimm sei, wenn er weinen müsse. Temduschins Tod, erklärte sie ihm, sei einfach nur eine weitere Drehung des Lebensrads, und dabei sei es wichtig, dass man ruhig bleibe und gute Gedanken habe. » Temudschin verwandelt sich gerade « , fügte sie hinzu, » er bereitet sich für seine Wiedergeburt vor. Mein Vater war zeitlebens ein guter Mensch, und deswegen wird auch sein neues Leben ein gutes sein. « Drei Tage lang kamen buddhistische Mönche und Trauergäste zu ihnen nach Hause, um gemeinsam ihre buddhistischen Gesänge zu singen und in gewissen Abständen Glocken, Messingbecken und Hörner ertönen zu lassen. Vor einem Buddhabild, das bis zur Einäscherung neben Temduschins sterblicher Hülle stand, brannten Räucherwerk und Öllampen. Temudschins zahlreiche Freunde strömten herbei, um schweigend von ihm Abschied zu nehmen. Die ganze Zeremonie lief voller Anmut und unaufgeregt ab, fast wie in einem Traum.
Im Gegensatz dazu waren die Beerdigungen in der orthodoxen Kirche der Dekabristen, zu denen sein Vater ihn hin und wieder mitgenommen hatte, eher laut und protzig, und es hatte etwas Ekstatisches, wenn die Trauernden Gott um Gnade für die sündhafte Seele des Verstorbenen anflehten. In Timofeis Augen spiegelten die orthodoxen Rituale eine gewisse Hoffnungslosigkeit gegenüber dem Tod wider, der
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