Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
kräftiger junger Mann und wirst die Küferei noch viele Jahre führen, wenn deine Mutter schon längst unter der Erde ist. «
Timofei nickte, bat den Mann aber dennoch, das Papier für ihn aufzubewahren.
Mit dem Geld aus der Betriebskasse kaufte er Felja, ein hübsches junges Don-Pferd, und ein Paar neue Stiefel. Seine Mutter lud die beiden gewebten Satteltaschen mit Proviant voll und gab ihm zwei warme mongolische Yakwolldecken.
Heimlich steckte er das Kruzifix und die Bücher seines Vaters sowie eine Gebetsmühle ein. Auch die kleine swirel, die Kolja ihm zu seinem letzten Namenstag geschenkt hatte, nahm er mit. Kolja hatte sie selbst geschnitzt und in ungelenken Lettern seinen Namen hineingeritzt, um sie ihm dann bei der Familienfeier stolz zu überreichen.
» Sobald du ihn gefunden hast, bringst du ihn zu mir zurück « , sagte Ula zu Tima, der neben seinem Pferd stand. Die Kirchenglocken mahnten zur Morgenmesse.
Timofei konnte ihr nicht in die Augen sehen. Er fuhr mit den Fingern über Feljas hohen, von honigfarbenem Fell bedeckten Widerrist, der im Sonnenlicht golden glänzte.
» Wie viele Tage wirst du wohl bis nach Irkutsk brauchen? « , fragte seine Mutter.
» Viele. Es hängt vom Wetter und den Straßenverhältnissen ab. « Tima hatte es eilig wegzukommen, um nicht länger das traurige und zugleich hoffnungsvolle Gesicht seiner Mutter ertragen zu müssen.
» Es ist Juni. Ein guter Monat für eine Reise « , sagte sie, während er aufsaß. Sie hatte ihn nicht einmal umarmt.
Er lenkte Felja in Richtung Straße. » Auf Wiedersehen, mamascha « , sagte er. » Ich segne dich mit beiden Händen. « Unwillkürlich fügte er die alte orthodoxe Formel an. Plötzlich erinnerte er sich wieder, wie sie ihm etwas vorgesungen hatte, wenn sie ihn als kleines Kind ins Bett steckte. An ihr Lächeln, wenn sie sein Lieblingsessen vor ihn hinstellte, ihre zärtliche Berührung.
» Ich halte Ausschau nach dir, bis du mit deinem Bruder zurückkommst « , sagte sie. » Ich weiß, ich kann dir vertrauen. Du bist ein guter Sohn, Timofei Aleksandrowitsch. Ein guter Mensch. « Sie sprach ihren Segen auf Burjatisch, und Timofei presste die Unterschenkel an Feljas Flanken und ritt aus Tschita hinaus.
ACHTUNDZWANZIG
A ll die Jahre über versuchte Grischa, die letzten Worte, die seine Mutter zu ihm gesagt hatte, zu vergessen. Während er und Antonina jetzt von der Datscha nach Angelkow zurückreiten, denkt er daran, wie sehr seine Mutter sich in ihm irrte. Er war kein guter Sohn, und aus ihm ist kein guter Mensch geworden.
Seine Haut birgt noch immer Antoninas Duft. Während dieser unerwarteten, verwirrenden und doch berauschenden Stunden in der Datscha ist etwas mit ihm geschehen. Als Antonina sich gestattete, nicht länger eine Gräfin, sondern einfach nur Frau zu sein, ist ihm die feste Kontrolle entglitten, die er, seit er denken kann, über sein Leben ausübte. Während er sie im Schlaf betrachtete, spürte er den Wunsch, sie zu beschützen, ihr Kummer und Schmerz zu nehmen.
Der Schmerz infolge eines Betrugs, den er verschuldet hat.
Die harschen Worte, die sie vor einer Stunde zu ihm gesagt hat, ehe sie sich umdrehte und die Datscha verließ, ändern nichts an seinen Gefühlen für sie. Während sie Seite an Seite in der Stille nebeneinanderherreiten – nur das saugende Geräusch der Hufe im tiefen Schlamm und das Krächzen der Krähen ist zu hören –, wünscht er, sie würde ihn wieder so anlächeln wie im Kerzenschein in der Datscha.
So wie sie Michails Mantel festhält – das Einzige, was sie von ihm hat –, erinnert sie ihn wieder an die junge Frau, die vor zehn Jahren im Innenhof mit der Prügelbank stand, den Säugling schützend und mit grimmiger Entschlossenheit an sich gedrückt.
Grischa weiß, dass sie ihm bedingungslos vertraut. Es schmerzt ihn, wenn er an den vorigen Tag in Tuschinsk zurückdenkt. Er hoffte – betete –, dass er an der Tür des Hauses, wohin Lew ihn bestellt hatte, nur das Bündel Rubel aushändigen müsste und schon würde Michail aus der Hütte herausspazieren. Aber das ist nicht geschehen. Lew hatte den Jungen nicht. Er sagte, der Mitlowski-Spross warte in einem anderen Dorf auf ihn. Er werde jetzt das Lösegeld von Grischa nehmen und ihm Anweisungen geben, wo er den Jungen finde. Nein, du führst mich jetzt auf der Stelle zu ihm, sagte Grischa, doch Lew schüttelte den Kopf. Grischa war wütend und stritt mit ihm, während er das Geld fest in der Hand hielt und immer wieder
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