Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
Luft ein, angestrengt bemühte sie sich, ihre Fassung zurückzugewinnen. Sie wischte sich über die Lippen. » Tut mir leid, Tima. Es ist der Dirigent. Dein Papa … er hat ihn mit diesem Mann mitgehen lassen. Er hat ihn weggegeben. Und Kolja ist mit ihm losgefahren. «
» Er hat ihn weggegeben? « Tima fragte sich, ob seine Mutter verrückt geworden sei. Sein Vater konnte das unmöglich getan haben.
» Musik, wegen dieser Musik. Er hat mir mein Kind weggenommen, meinen Kolenka. « Wieder begann sie zu schluchzen. Sie ließ sich auf die Knie fallen und ergriff Timofeis schwielige Hände. Inzwischen waren ringsumher die Türen aufgegangen, und die Menschen schauten heraus.
» Timofei Aleksandrowitsch! « , rief jemand. » Brauchst du Hilfe? «
Tima antwortete nicht. Er wandte sich von seiner Mutter ab und rannte die Straße hinab, eine graue Staubfahne hinter sich herziehend.
Als er ungefähr fünf Minuten lang die gewundene Straße entlanggelaufen war, hörte er Hufgetrappel hinter sich. Es war nur ein alter Klepper, ein ungesatteltes mongolisches Reitpony. Sein Besitzer hatte Ulas Flehen gehört, das Pferd aus dem Hof geholt und war hinter Timofei hergetrabt. Er glitt von dem Pferd herunter, und Timofei hielt sich an der Mähne fest, um sich auf seinen Rücken zu schwingen.
Die Finger in der Mähne trieb er die Stute an, indem er die Fersen in ihre Flanken stieß. Die Mähre lief so schnell sie konnte in einer holprigen Mischung aus Trab und Galopp, die für ihren Reiter höchst unbequem war. Doch keine zehn Minuten später erspähte Timofei in einer Staubwolke das hintere Ende einer offenen Kutsche.
Er trieb sein Pferd noch mehr an, und das Tier brachte einen mühsamen Galopp zustande. Timofei sah, dass er es schaffen würde. Noch ein paar Minuten und er hätte die Kutsche eingeholt. Er würde seitlich gleichziehen und den Dirigenten auffordern, ihm seinen Bruder zurückzugeben. Es sei alles ein großer Irrtum gewesen, und er bedauere, aber er könne Kolja nicht mitnehmen.
Er stellte sich vor, wie Kolja weinen würde. Ob der Kleine überhaupt verstand, was mit ihm geschah? Vielleicht, dachte er dann, saß sein kleiner Bruder lächelnd da, weil er dachte, er würde einfach nur einen Ausflug in der Kutsche unternehmen.
Nein. Kolja würde bestimmt weinen, beschloss er.
Wenn sich der Dirigent weigern würde, seiner Aufforderung zu folgen, würde er ihn eben bedrohen. Die körperliche Arbeit hatte ihm eine breite Brust und muskulöse Arme beschert. Er war sich seiner Kraft bewusst und stellte sich vor, wie er den Mann aus dem Tarantas herauszerren und die Faust gegen ihn erheben würde. Bei den anderen handelte es sich ohnehin nur um schmächtige junge Musikanten. Bestimmt hatten sie Angst vor ihm und würden sich um die Unversehrtheit ihrer Hände sorgen – ihrer Lebensgrundlage. Es würde also ein Kinderspiel werden, sich Kolja zu schnappen und ihn vor sich auf die Mähre zu setzen.
Tima sah schon vor sich, wie Kolja erleichtert lächeln würde, genau wie die vielen Male zuvor, als er ihn aus einer misslichen Lage gerettet hatte. Er stellte sich auch das Gesicht seiner Mutter vor, ihre Erleichterung und Freude, wenn er mit Kolja angeritten käme. Es gelang ihm jedoch nicht, sich den Ausdruck seines Vaters auszumalen; Timofei konnte sich einfach nicht erklären, was in ihn gefahren war, dass er so etwas zugelassen hatte.
Das waren die Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, während er hinter der Kutsche herritt. Der Straßenstaub brannte in seinen Augen und legte sich auf seine Lippen. Obwohl er den Mund geschlossen hielt, konnte er ihn schmecken.
Es dauerte nicht lang, und er war nah genug, um das Klirren der Pferdegeschirre zu hören.
Und plötzlich war es, als würde vor seinem geistigen Auge etwas explodieren, und ein helles Licht breitete sich aus, in dem Tima etwas anderes sah. Er sah sich selbst, sah, wie er auf einem Pferd – nicht dieser gebrechlichen alten Mähre mit durchgehangenem Rücken, sondern einem rassigen, temperamentvollen Tier – auf ebendieser Straße Tschita verließ.
Von der Pflicht befreit, für den Rest seines Lebens für seinen Bruder zu sorgen, würde er weggehen können, wenn seine Mutter ihn nicht mehr brauchte. Er würde weder an den Betrieb noch an Kolja gebunden sein.
Tima wäre frei, das Leben zu leben, das er für sich wollte, frei von allen Fesseln.
Als hätte sie seine Gedanken gehört, fiel die Stute in eine gemächlichere Gangart und gab ein keuchendes
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