Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Holeman
Vom Netzwerk:
Schnauben von sich, während sie den Kopf schüttelte.
    Er stieß ihr erneut die Fersen in die Flanken. Er war jetzt so nah an der Kutsche, dass er meinte – auch wenn er es nicht mit Sicherheit sagen konnte –, Koljas Hinterkopf zu erkennen. Der Kopf wandte sich um. War das Kolja, der etwas rief? Tima, Tima. Hilf mir.
    Der Tarantas gelangte an eine Weggabelung. Tima kniff die Augen zusammen und versuchte durch den Staub hindurch und im Gedränge der Menschen, die auf den Holzbänken der offenen Kutsche saßen, seinen Bruder auszumachen. Aber das Bild, das sich vor sein geistiges Auge schob, war klar und deutlich: das tränenüberströmte Gesicht seines Bruders, der weinend nach ihm rief, wie schon unzählige Male zuvor, und darauf wartete, von ihm gerettet zu werden. Der ihn brauchte, jetzt und für immer und ewig.
    Und in diesem Moment, den er bis zu seinem Lebensende immer wieder durchleben würde, hörte er auf, die Unterschenkel an die Flanken seines Reittiers zu pressen. Die Stute nahm es sofort als Zeichen, in einen ruhigen Schritt zu fallen. Sie senkte den Kopf, und ein erleichtertes Schaudern durchlief ihren Körper.
    Timofei saß in der warmen Maisonne auf dem keuchenden Pferd und sah zu, wie die Kutsche an der Weggabel links abbog, kurz darauf war sie auf der gefurchten, staubigen Straße verschwunden.
    Langsam ritt er nach Hause und brachte dem hilfsbereiten Nachbarn sein Pferd zurück. Als er allein das Haus betrat, sah seine Mutter ihn lange an. Und als er den Kopf schüttelte, rannte sie weinend in ihr Schlafzimmer.
    Tima bemühte sich, keine Miene zu verziehen, aus Angst, man könnte von seinem Gesicht ablesen, was er getan hatte. Er war unfähig zu reden.
    Sein Vater wollte ihm seine Beweggründe erklären, hoffte, dass Timofei ihn im Gegensatz zu seiner Frau verstehen würde. » Du musst wissen, warum ich dachte, es sei das Beste für ihn, mein Sohn « , begann er matt. Er atmete mehrmals lang und mit schmerzverzerrtem Gesicht ein und aus und wischte sich über den Mund. » Du kennst Kolja vielleicht am besten von uns allen. Ich bin sicher, es war das Richtige für ihn. « Er starrte auf das blutgetränkte Taschentuch in seiner Hand.
    Timofei trat zu seinem Vater. » Nein. Du hast nicht richtig gehandelt. Schau nur, was du Mama angetan hast. Und Kolja … er wird fern von zu Hause nicht überleben. Fern von uns, von mir. Ich werde dir nie verzeihen. Hörst du? Niemals! « Damit rannte er nach draußen.
    Noch während er weglief, wurde Tima klar, dass er Kolja weitaus Schlimmeres angetan hatte als sein Vater. Sein Vater hatte den Jungen aus fehlgeleiteter Vaterliebe weggeschickt. Er hingegen hatte aus Selbstsucht gehandelt.
    Timofei wusste, dass er niemals auf Vergebung hoffen durfte, auch nicht, wenn er seine Sünde dem Priester beichtete. Selbst wenn dieser ihm die Absolution erteilte. Oder wenn er noch so oft im dazan die Gebetsmühlen drehte und blaue Gebetsfahnen an sämtliche Zweige band. Er war irgendwo im Niemandsland zwischen den beiden Religionen gefangen, zwischen den Flammen der Hölle und der unausweichlichen Macht des Karmas. Nach der einen Religion drohte ihm die ewige Verdammnis, nach der anderen die Wiedergeburt als ein niederes Lebewesen, als Mistkäfer womöglich.
    Und sich selbst würde er ebenfalls nie vergeben, dessen war er sich sicher. Und doch wusste er, dass er es wieder tun würde, stünde er erneut vor derselben Entscheidung.
    Am Tag nach seinem großen Sündenfall kam Timofeis Mutter zu ihm ins Zimmer, während er sich für die Arbeit anzog. Sie verlangte, er solle, statt in die Werkstatt zu gehen, in Richtung Irkutsk reiten. Der Dirigent und seine Truppe würden einige Tage unterwegs sein und gewiss mehrmals in einem der Dörfer entlang der Strecke übernachten. Timofei könne sich in jedem Dorf nach ihnen erkundigen, bis er Kolja gefunden habe, und ihn dann zurückbringen. » Mach die Küferei zu und geh « , sagte sie dumpf. Ihr Gesicht war fleckig und ihre Augen von der durchweinten Nacht zugeschwollen.
    » Aber Papa ist … « Er unterbrach sich. » Wie kann ich jetzt weggehen, wo Papa doch so krank ist, Mama? « Er warf einen verstohlenen Blick durch die offene Tür des Wohnzimmers zu der Bank, wo sein Vater lag.
    Ula schüttelte den Kopf. » Mach dir keine Sorgen um deinen Vater. « Ihre Stimme hatte einen harten Klang angenommen. Er konnte ihre Wut durchaus nachvollziehen, aber als er jetzt ihre verhärtete Miene sah, war er mindestens ebenso schockiert, wie als

Weitere Kostenlose Bücher