Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Holeman
Vom Netzwerk:
eine notgedrungene Folge des menschlichen Lebens war, das im Zeichen der Erbsünde stand. Dagegen war für die Buddhisten der Tod nur eine Zwischenstation auf dem Weg zum ewigen Leben.
    Als Timofei nun sah, wie sich seine Mutter weigerte, seinem verstorbenen Vater den nötigen Respekt zu erweisen – sowohl auf die eine als auch auf die andere religiöse Art –, stieg Ärger in ihm auf. Er war unfähig, das Ausmaß von Ulas Wut zu erfassen. Sogar im Tode konnte sie Aleksandr nicht verzeihen, was er getan hatte, und es war ihr unmöglich, um ihn zu trauern. Während er eine lange, dunkle Nacht neben dem offenen Sarg verbrachte, wurde ihm bewusst, dass sie im Grunde bereits um Kolja trauerte.
    Und so saß Timofei allein im flackernden Kerzenlicht und beweinte seinen Vater. Er betrachtete Aleksandrs wächsernes Profil und rief sich die zahlreichen Episoden ins Gedächtnis, die er gemeinsam mit seinem Vater erlebt hatte. Wie sein Vater ihm Lesen und Schreiben in zwei Sprachen beigebracht, mit ihm über Weltgeschichte und Politik diskutiert und ihm von der Welt jenseits von Tschita erzählt hatte. Er dachte daran, wie sein Vater ihm auf den Rücken geklopft und voller Stolz gelächelt hatte, und spürte tiefe Traurigkeit.
    Schließlich kniete er neben dem Sarg nieder und weinte und küsste das Kruzifix, das er um den Hals trug. Doch noch während er den Tränen freien Lauf ließ, war ihm bewusst, dass er auch um sich selbst weinte.
    Er erkannte, wie selbstsüchtig er sogar in seiner Trauer war, und wusste, dass das, was er als Nächstes tun würde, mindestens so schlimm, wenn nicht noch schlimmer war.
    Einen Tag nach der Beerdigung – Aleksandr wurde nach russischem Ritus auf dem Friedhof hinter der Fachwerkkirche mit der grünen Kuppel beigesetzt –, forderte Ula ihn auf, in Richtung Irkutsk aufzubrechen. » Dein Vater ist tot. Es gibt keinen Grund mehr, länger hier zu verweilen. Je länger Kolja fern von mir ist, umso unerträglicher ist es für ihn. «
    » Du willst, dass ich sofort losreite? Soll ich nicht wenigstens das neuntägige Trauerritual abwarten, das Vaters Übergang begleitet? Es ist nicht richtig, wenn … « Doch Ula ließ ihn nicht ausreden, sondern schüttelte den Kopf.
    » Du musst sofort aufbrechen. « Ihr Gesicht zog sich zusammen, und Timofei erinnerte sich, dass sie bei Aleksandrs Beerdigung nicht geweint hatte; als wäre sie tief in Gedanken versunken, hatte sie dagestanden und zu den Bäumen hinter der Kirche geblickt, an denen die ersten Knospen zu sehen waren. » Erst wenn ich Kolja wiederhabe, wird es mir besser gehen. Mein kleiner Junge. Er muss wieder zurückkommen, zu mir. Er ist alles, was ich will und was ich brauche. « Sie drehte sich um, und Timofei spürte einen kalten Stich in der Brust.
    » Gut « , sagte er mit emotionsloser Stimme, den Blick auf ihren abgewandten Rücken gerichtet. » Ich gehe, sobald ich den letzten Auftrag ausgeführt habe, in zwei oder drei Tagen. « Er würde die Küferei schließen müssen. Antip, zehn Jahre älter als Timofei und ein guter Arbeiter, konnte nicht lesen und schreiben. Ohne zu murren und stets freundlich, nahm er Anweisungen von dem jüngeren Mann entgegen und führte sie zuverlässig aus, besaß jedoch keinerlei Ehrgeiz. Er würde den Betrieb nicht weiterführen können. » Ich kaufe ein Pferd und reite dann los. «
    Während der nächsten zwei Tage schuftete Timofei, um die ausstehenden Aufträge auszuführen. Der monotone Arbeitsrhythmus – das Kratzen der Dechsel auf dem Holz – beruhigte ihn und gab ihm die Gelegenheit, sein Vorhaben sorgfältig zu planen.
    Es war einfacher, als er gedacht hatte. Er erklärte Antip, dass die Küferei für unbestimmte Zeit geschlossen werde, und bezahlte ihm einen zusätzlichen Wochenlohn. Er sagte ihm, wie leid es ihm tue, ihn so kurzfristig entlassen zu müssen. Dann setzte er ein Schreiben auf, in dem er sicherstellte, dass seine Mutter den Erlös des bevorstehenden Verkaufs des Betriebes erhalten würde. Er ließ seine Echtheit von Georgi bezeugen und unterzeichnen, dem treu ergebenen Freund seines Vaters, der als Einziger von den russischen Verbannten in Tschita noch lebte. Die übrigen Dekabristen, die meisten älter als Aleksandr und alle von der mörderischen Schufterei im Straflager physisch ausgezehrt, waren mittlerweile gestorben.
    » Dieses Papier soll meine Mutter beschützen « , erklärte Timofei Georgi, » falls mir etwas zustoßen sollte. «
    Georgi schüttelte den Kopf. » Du bist ein

Weitere Kostenlose Bücher