Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
sich, wie Michail das überleben soll. Falls er überlebt.
Was dafür spricht, ist, dass er Antoninas Sohn ist. Der Junge schlägt in jeder Beziehung nach ihr: Er hat einen wachen Verstand, ist neugierig und einfühlsam und verfügt gleichzeitig über eine gewisse Portion an Gerissenheit. Er hat ein gewinnendes Wesen, genau wie sie auch. Wäre er wie sein Vater, herrisch und ichbezogen, würde es für ihn womöglich schlimmer ausgehen. Grischa versucht, seine Sorgen zu beschwichtigen, indem er sich ins Gedächtnis ruft, wie er als Jugendlicher war: Immerhin war er nur fünf Jahre älter, als Michail jetzt ist, als er auf eigene Faust von zu Hause wegging, und er hat trotz aller Widrigkeiten überlebt.
Aber natürlich ist Michail nicht wie Grischa. Nein, mit seinem zarten Knochenbau und den langen, schmalen Fingern und seinem musischen Talent gleicht er eher einem anderen Jungen, den Grischa einst kannte. Und mit einem Mal muss er sich eingestehen, dass Michail ihn an seinen kleinen Bruder erinnert, den er seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hat. Kolja.
Seit der Entführung ist kein Tag vergangen, an dem sich Grischa nicht Vorwürfe gemacht hat: Wie konnte er Michail nur dieser Gefahr aussetzen und somit die Gräfin an den Rand der Zerstörung treiben, nur weil er einen abgrundtiefen Groll gegen den Grafen hegte.
Seit er sein Zuhause in Tschita verlassen hat, hat er nicht mehr gebetet. Doch als die Männer Michail nicht wie abgemacht zurückgaben, spürte er seit Langem wieder das Bedürfnis zu beten. Also begab er sich spätabends, als Pater Kirill schon schlief, in die kleine Gutskirche und flehte zu Gott, dass dem Kind nichts angetan wurde.
Aber das Beten mildert seine eigene Schuld nicht. Er hat zum zweiten Mal einen Jungen verraten.
Als sie Angelkow erreichen, stürzt Lilja aus dem Haus und läuft ihnen entgegen. Beim Anblick von Antoninas zerschundenem Gesicht und dem blutbefleckten Mieder unter dem offenen Umhang schlägt sie keuchend die Hand vor den Mund. Dann funkelt sie Grischa wütend an, als wäre er schuld an ihrem Zustand.
» Beeilen Sie sich, gnädige Frau « , sagt Lilja, indem sie Grischa noch immer anstarrt. » Der Graf … Er … Es geht ihm schlecht. «
Mit einer Hand Michails Mantel umklammernd lässt sich Antonina von ihrer Stute heruntergleiten. » Was ist geschehen? «
Lilja berührt den Ärmel der talmotschka. » Wo waren Sie letzte Nacht? Was ist mit Ihrem Gesicht geschehen? Und woher haben Sie Mischas … «
Antonina geht bereits auf das Haus zu. » Sag mir, was mit dem Grafen los ist. « Sie hat Grischa nicht einmal mehr angesehen.
Aber Lilja tut es und bemerkt, dass er Antonina mit seinen Blicken verfolgt.
» Nachdem Pawel gestern Nacht dem Grafen sein Chloroform gegeben hatte, ist er eingeschlafen « , erzählt Lilja. » Als er kurz vor Sonnenaufgang aufgewacht ist, hat er bemerkt, dass das Bett des Grafen leer ist. Er dachte, dass er vielleicht in Ihr Zimmer gegangen ist. Doch als er dort nachsah, hat er nur … na ja, mich vorgefunden – ich hab die ganze Nacht dort gesessen und auf Sie gewartet. Wie hätte ich ein Auge zutun können, solang ich nicht wusste, wo Sie waren? «
Antonina überquert die Veranda, während Lilja ihr folgt und mit gesenkter Stimme in ihrem Bericht fortfährt. » Pawel hat mir gesagt, dass er nicht weiß, wo dein Mann ist. Da bin ich zum Dienstbotenquartier gegangen und habe Ljoscha aufgeweckt, und der hat alle Diener zusammengetrommelt, um nach euch beiden zu suchen. Wir dachten, der Graf hat dir womöglich was angetan. Wir haben uns alle solche Sorgen gemacht, Tosja. « Als Antonina abrupt stehen bleibt und sich zu ihr umdreht, stößt Lilja mit ihr zusammen.
» Hat man ihn gefunden? «
» Ja. Ljoscha hat ihn auf dem Friedhof entdeckt. Bis auf die Haut durchnässt und am ganzen Leib zitternd hat er auf einem Grab gelegen. Als man ihn ins Haus brachte, sagte er, er hätte bei seinem Sohn geschlafen. Er ist sehr krank, Tosja, es geht ihm noch viel schlechter als vorher. «
Während Antonina den langen Flur zu Konstantins Zimmer entlanggeht, hüpft Tinka ihr um die Füße herum. Als sie das Zimmer betritt, springt Pawel auf.
» Wie geht es ihm? « , fragt sie. Sie sieht, dass ihr Mann nur mühsam atmet.
» Er scheint wieder Fieber zu haben, gnädige Frau. Ich weiß nicht, wie lange er da draußen in Regen und Kälte gelegen hat. Tut mir leid, gnädige Frau, aber ich dachte, er schläft, ich … «
» Du kannst nichts dafür, Pawel. Hast
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