Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
einen schwarzen Hut mit Krempe und einen eleganten schwarzen Mantel mit grauem Lammfellkragen sowie frisch gewachste schwarze Stiefel.
Grischa trägt keinen Hut, und selbst aus dieser Entfernung sieht sie, wie sein Haar im Sonnenlicht glänzt.
Er schüttelt den Kopf, und der Mann blickt über die Schulter zum Haus. Antonina duckt sich schnell hinter den Vorhang, doch nicht ohne einen Blick auf das Gesicht des Gasts zu erhaschen.
Er geht zu seinem Pferd zurück, das Ljoscha an den Zügeln hält.
Nachdem der Mann weggeritten ist, schickt sie nach Grischa.
Jetzt steht er im Arbeitszimmer vor ihr. Die kalte Herbstluft hat seine Wangen gerötet.
» Geht es dir gut, Antonina? « , fragt er.
» Dieser Mann, mit dem du gerade gesprochen hast. Was wollte er? «
Grischa antwortet nicht sofort. » Es war der Musiklehrer der Bakanews. «
» Der Geiger « , sagt sie.
» Er hat gesagt, er sei der Musiklehrer. «
Antonina zögert kurz und fragt dann abermals: » Was wollte er? «
Sie merkt, wie sich Grischas Miene verändert. » Er wollte dir einen Beileidsbesuch abstatten. «
Antonina ruft sich ins Gedächtnis, wie der Geiger bei Konstantins Beisetzung ihre behandschuhte Hand zwischen seine Hände nahm.
» Ich habe ihm gesagt, dass es unmöglich ist; dass du keinen Besuch empfängst. Oder irre ich mich vielleicht? « Er sieht kurz zur offen stehenden Tür, an der Pawel gerade vorbeigeht. » Gräfin Mitlowskaja? «
» Nein, ist schon in Ordnung. «
» Ich habe ihn gefragt, wie er dazu kommt, nur eine Woche nach der Beerdigung hier aufzutauchen, ohne eine Einladung oder wenigstens zuvor seine Karte zu schicken, und zu glauben, du würdest ihn empfangen. Dieser Mann lässt es an den nötigen Manieren mangeln. «
» Aber warum hast du ihn weggeschickt, ohne mich vorher zu fragen? «
Grischas Blick huscht von ihren Augen zu ihrem Mund und wieder zurück. » Hättest du ihn denn empfangen? « Als sie nicht sofort antwortet, stellt er eine weitere Frage: » Kennst du diesen Mann? «
Warum hat sie plötzlich Schuldgefühle? Sie hat nichts Verwerfliches getan. » Er ist vor langer Zeit auf dem Gut meines Vaters mit einem Orchester aufgetreten, als ich noch nicht verheiratet war. Und bei der Soiree der Bakanews neulich habe ich ihn wiedergesehen. «
» Und nach so vielen Jahren hast du dich an ihn erinnert? « Grischa ruft sich das Gesicht des Fremden ins Gedächtnis. Es ist männlich, aber irgendwie auch – das Wort » hübsch « kommt ihm in den Sinn, aber das trifft es nicht ganz. Es ist genau die Art von Gesicht, das gewissen Frauen gefällt. Aber zu zart für eine Frau wie Antonina, denkt er dann.
» Warum bist du nicht auf den Gedanken gekommen, mich wenigstens zu fragen, ob ich ihn empfangen will? « , fragt sie. » Kann ich nicht selbst entscheiden, wen ich sehen möchte, auch wenn der Besucher sich nicht an die üblichen Gepflogenheiten hält? «
Es behagt Grischa nicht, dass sie ihn wie einen kleinen Jungen rügt. » Ich wollte dich nur beschützen, Antonina. « Er hat Mühe, seinen Ärger zu unterdrücken. » Es war ja in letzter Zeit nicht so, dass du gern Besuch empfangen hast, selbst Menschen, die du kennst. Daher nahm ich an, dass du erst recht keinen Fremden sehen willst. «
Antonina fühlt sich merkwürdig irritiert durch Grischa. Sie presst die Lippen zusammen und schüttelt den Kopf. » Es geht darum, dass du nicht über meinen Kopf hinweg für mich Entscheidungen treffen kannst. «
» So, kann ich das nicht? « Grischas Stimme hat einen kalten Klang. » Hast du mich nicht genau darum gebeten? Dass ich selbstständig Entscheidungen treffe? «
» Ja, was das Gut betrifft « , erwidert sie, indem sie das zweitletzte Wort betont. » Aber nicht in Fragen, die mich persönlich angehen. «
Die Atmosphäre ist zum Schneiden, wie nach einem lauten, heftigen Wortwechsel, obwohl keiner von beiden die Stimme erhoben hat.
» Gut, wie du wünschst « , sagt Grischa schließlich. Er langt in seine Manteltasche und fischt eine kleine quadratische Karte heraus. » Hier ist seine Karte. Wenn du ihn gern empfangen möchtest, brauchst du ihm nur eine Nachricht zu schicken. «
» Danke. « Antonina nimmt mit spitzen Fingern das Kärtchen, um ja nicht Grischas Finger zu streifen. Sie hat Angst davor, was eine Berührung bei ihr auslösen könnte, Angst davor, was sie dann tun könnte. Während beide das Kärtchen einen Moment lang an je einem Ende festhalten, spürt sie ein Vibrieren. Zittern ihre Finger oder
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