Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Holeman
Vom Netzwerk:
Bildern auf sie ein – Mischa ohne seinen Mantel, Konstantins totes, bläuliches Gesicht, Pater Kirill, der ihr vorschlägt, einen Grabstein für Mischa aufstellen zu lassen, das grausam zugerichtete Pferd. Sie setzen ihr so zu, dass sie sich aufsetzen muss und zitternd in die Dunkelheit starrt. Doch noch ein weiterer Gedanke bemächtigt sich ihrer.
    Obwohl sie versucht, diese Erinnerung in einen hinteren Winkel ihres Gedächtnisses zu verbannen, drängt sie sich ihr immer wieder auf: sie und Grischa in der Datscha.
    Aber während sie an ihre Vereinigung denkt, schiebt sich noch ein weiterer Erinnerungssplitter in ihr Bewusstsein. Als sie in Tuschinsk das Kind mit Mischas Mantel sah, war sie so aufgewühlt und abgelenkt, dass sie es ganz vergessen hatte. Doch während sie jetzt die Ereignisse Revue passieren lässt, muss sie unvermittelt an diesen Mann denken – wie hieß er doch gleich? –, Lew, der Mischas Nachricht brachte. Ist er derselbe Mann, mit dem Grischa redete? Das kann nicht sein, denn andernfalls hätte Grischa ihr das gesagt.
    Doch dann erinnert sie sich, wie Grischa dem Mann ein kleines Bündel hinstreckte. Was war das? Sie muss es unbedingt herausfinden.
    Sie lässt Tinka auf dem Bett zurück, zieht einen Schal über das Nachthemd und öffnet die Tür. Lilja schläft schon wieder auf ihrer behelfsmäßigen Pritsche, mit offenem Mund und einer Hand unter dem Kopf.
    Antonina spürt einen Anflug von Ärger. Gleich morgen wird sie es Lilja sagen. Sie will nicht, dass diese vor ihrer Tür wacht, als wäre sie ein kleines Kind, das zum Nachtwandeln neigt und das man beschützen muss.
    Doch als sie leise die Treppe hinuntergeht, fragt sie sich, ob sie nicht genau das tut. Sie weiß, dass sie zu viel Wodka getrunken hat.
    Bei den wenigen Dienstboten, die noch da sind, muss sie nicht befürchten, einem von ihnen zu begegnen. Zwei gescheckte Harrier erheben sich abrupt, als sie durch die Haustür auf die Veranda tritt. In besseren Tagen dienten sie als Jagdhunde, aber da in diesem Herbst keine Jagden mehr auf Angelkow veranstaltet wurden, liegen sie nur noch untätig herum und wollen dennoch gefüttert werden. Sie schnalzt nur mit den Fingern, und schon legen sie sich wieder hin, die Köpfe auf die Vorderpfoten gebettet. Mit unsicheren Schritten geht sie durch die ruhige, eiskalte Nacht, an den Stallungen, Nebengebäuden und dem Dienstbotenquartier vorbei, dann die gewundene, von blattlosen Linden gesäumte Auffahrt entlang. Als sie Licht in den Fenstern mit den blauen Läden sieht, beginnt ihr Herz schneller zu schlagen.
    Sie stellt sich vor, dass Grischa beim Kamin sitzt und ein Buch liest. Sie will ihn nur rasch fragen, wer der Mann war, mit dem er in Tuschinsk gesprochen hat.
    Ist das wirklich alles?
    Oder sucht sie seine Nähe, weil sie sich wieder als Frau fühlen will? Wenn sie ehrlich zu sich selbst ist, weiß sie, dass sie wieder seine Arme um sich spüren möchte, seine starken, fähigen Arme, und seine Stimme hören möchte, die ihr versichert, dass alles gut wird. Dass sie keine Angst zu haben braucht und ihr Sohn bestimmt zurückkommt. Dass sie Angelkow nicht verlieren wird. Dass er sie nicht verlassen wird.
    Sie will, dass er sie zu seinem Bett führt.
    Sie stolpert über ein Hindernis auf dem Weg – einen Stein, einen Zweig – und fällt auf die Knie. Weil sie mit den Händen den Sturz abfedern will, schürft sie sich die Handflächen auf. Sie setzt sich auf die Fersen zurück. Eine Eule heult, und sie erschaudert. In selben Moment geht das Licht in Grischas Haus aus.
    Sie steht wieder auf und kehrt ins Haus zurück. Ihre Schritte klingen laut auf der Kiesauffahrt. Von den kahlen Bäumen umgeben und in völlige Dunkelheit getaucht wirkt das Gutshaus mit einem Mal unheilvoll. Und nicht mehr wie ihr Zuhause.

EINUNDDREISSIG
    E in paar Tage später versucht sie sich am Nachmittag in ihrem Schlafzimmer mit einer Lektüre von ihren Sorgen abzulenken. Aber nach einer Weile ertappt sie sich dabei, wie sie eine Passage ein zweites Mal liest. Erst da wird ihr bewusst, dass sie das Buch bereits vor Konstantins Tod zu Ende gelesen hat. Während sie die Treppe hinabsteigt, um in der Bibliothek ein anderes Buch zu holen, hält sie beim Fenster im Treppenhaus inne. Es geht auf die Vorderseite des Guts hinaus und überblickt die lange gewundene Auffahrt. Die Sonne scheint von einem tiefblauen Himmel, und Antonina sieht, wie Grischa mit einem Mann spricht. Der Fremde dreht ihr den Rücken zu, er trägt

Weitere Kostenlose Bücher