Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
seine? Er lässt die Karte los, und sie schiebt sie unter ihren Gürtel. » Danke « , sagt sie abermals. » Ich werde einen Blick in meinen Kalender werfen. « Beide wissen, wie lächerlich diese Bemerkung ist. Was soll schon in Antoninas Kalender stehen? » Ich lasse dich dann wissen, ob und an welchem Tag ich ihn empfangen möchte, dann kannst du ihm eine Nachricht zukommen lassen « , fügt sie hinzu.
Grischa steht reglos da.
» Das wäre alles, Grigori Sergejewitsch « , sagt Antonina. Fast ist sie versucht, ihm ein drittes Mal zu danken, nur um ihre Unterhaltung hinauszuzögern, doch sie begibt sich stattdessen an den Schreibtisch, wo sie geflissentlich in einem kleinen Stoß Unterlagen wühlt. » Oh nein, warte bitte. « Plötzlich fällt ihr wieder ein, was sie ihn noch fragen wollte. » Dieser Bauer in Tuschinsk, mit dem du gesprochen hast. «
Grischa nickt. » Ich habe der Familie einen Mantel für den Jungen und einen Korb mit Kleidung geschickt. «
» Nein, den meine ich nicht. Der Mann in der Haustür, mit dem du geredet hast, bevor ich das Kind mit Mischas Mantel entdeckte. «
Grischa zögert.
» Wer war das? Hat er irgendwann einmal für uns gearbeitet? «
Grischas Miene ist undurchdringlich. » Ja « , sagt er schließlich.
» Er kam mir nämlich irgendwie bekannt vor. « Also war es nicht Lew. » Hast du noch etwas über das, was Felja angetan wurde, herausgefunden? « Sie hätte gern gefragt, ob er jemanden in Verdacht hat, ob er glaubt, dass es Soso gewesen sein könnte. Und ob er weitere Anschläge auf Angelkow fürchtet.
» Nein « , erwidert Grischa. Seine Miene ist weiterhin ausdruckslos.
Während sich Schweigen zwischen ihnen ausbreitet, wirft sie erneut einen Blick auf den Papierstapel auf dem Schreibtisch. Sie ist froh, dass sie neulich Abend nicht an Grischas Tür geklopft hat. Ich bin nicht wie meine Mutter, denkt sie, während sie plötzlich zum ersten Mal seit Langem wieder das Bild von Galina Maksimownas Stelldichein mit dem jungen Geiger – Walentin – plastisch vor Augen hat.
Was sie mit Grischa getan hat, war ein Fehler. Aber jeder macht einmal einen Fehler in seinem Leben.
Als sie den Blick wieder vom Schreibtisch hebt und bemerkt, dass sie allein im Zimmer ist, ist sie im ersten Moment enttäuscht. Schwer lässt sie sich in Konstantins Schreibtischsessel sinken. Aber ihr ist kalt, das Kaminfeuer ist kurz vor dem Erlöschen. Alles in diesem Raum erinnert an ihren Mann und lässt sie zusätzlich frösteln. Sie steht wieder auf, um in ihr Zimmer zurückzugehen. Lilja sorgt immer dafür, dass das Feuer dort nie ausgeht. Doch dann blickt sie auf das Kärtchen in ihrer Hand und liest den Namen, der in eleganter Kursivschrift darauf geschrieben steht.
Drei Tage später wird Walentin Wladimirowitsch in die Bibliothek geführt, wo Antonina auf ihn wartet. Im selben Moment, als er durch die Tür tritt, bereut sie es, ihn eingeladen zu haben. Was hat sie sich von seinem Besuch erhofft? Worüber will sie mit ihm sprechen? Was soll bei diesem Treffen herauskommen, wenn der Geist ihrer Mutter in der Ecke steht und sie grinsend beobachtet?
Als Antonina ihre Karte mit der Einladung auf das Gut der Bakanews bringen ließ, redete sie sich ein, sie wolle sich nur ein wenig ablenken – von ihrem fortwährenden Kummer wegen Michail, ihrem noch frischen Witwendasein, den Sorgen um Angelkow. Aber sie weiß, das ist nur die halbe Wahrheit. Sie will sich auch von ihren verworrenen Gefühlen für Grischa ablenken.
Grischa empfängt Walentin im Hof und redet mit ihm, während er mit ihm auf den Eingang zugeht.
» Ich hoffe, Sie wissen, welch tiefes Leid Angelkow in den letzten Monaten heimgesucht hat, und ich meine nicht nur den Tod des Grafen « , sagt er, während er Walentin einen kurzen Blick von der Seite zuwirft. Er überragt den Musiker um einige Zentimeter.
» Ja, bei der Beerdigung habe ich von der Entführung des Kindes der Mitlowskis erfahren. «
» Die Gräfin ist die letzten sechs Monate durch die Hölle gegangen « , fährt Grischa fort. » Sie ist außer sich vor Sorge. Und dann der Tod ihres Gatten … erst kürzlich. « Wieder sieht er den Musiker an. » Verstehen Sie, was ich sagen will, Kropotkin? «
» Sind Sie die Leibwache der Gräfin? « Walentin hat keine Lust, sich vor dem Verwalter zu rechtfertigen. Er ist jetzt ein freier Mann. Als er neulich nach Angelkow kam, um die Gräfin zu besuchen, bemerkte er, dass dieser Naryschkin derselbe Mann ist, der die Gräfin
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