Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
Schreibtisch, in dessen obersten Schublade Grischas Brief liegt: der Brief, den er mit seiner ebenmäßigen Handschrift auf die Rückseite ihrer Glinka-Notenblätter schrieb. Die beiden Blätter wurden ihr eine Woche nach Mischas Rückkehr gebracht. Im Brief steht alles. Sie kennt ihn inzwischen auswendig, so oft hat sie ihn schon gelesen.
Sie arbeitet daran, ihm eines Tages vergeben zu können, und ihr erscheint es einfacher, wenn sie nach vorn anstatt zurück schaut.
Jetzt erheben die vier – Antonina, Michail, Ljoscha und Anja – die Gläser und stoßen auf das neue Jahr an. Es ist ein billiger Wein, aber er leuchtet rubinrot in den Kristallgläsern, die Antonina aus Sankt Petersburg mitgebracht hat.
» Sa wasche sdorowje! « , sagt Ljoscha.
Antonina stimmt ein: » Auf euer Wohl. « Und die vier bringen ihre Gläser zusammen und stoßen an. Mischa verzieht den Mund, als er an dem Wein nippt, wirkt aber stolz, weil er zu diesem besonderen Anlass Wein trinken darf. Gott weiß, dass das, was er durchgemacht hat, reicht, um ihn für einen jungen Mann halten zu können.
An diesem besonderen Abend denkt Antonina an ihre Eltern und ihre Brüder, an Konstantin und Walentin – der arme Walentin! – und an all jene, die sie auf ihre ganz spezielle Weise gernhatten. Auch an Lilja denkt sie.
Ljoscha hat dreimal versucht, seine Schwester im Kloster zu besuchen, wurde aber jedes Mal abgewiesen. Lilja Petrowna, sagte man ihm, habe ihr Leben Gott geweiht und die äußere Welt für immer verlassen. Mittlerweile hat sich Ljoscha damit abgefunden, dass er sie niewieder sehen wird.
Nachdem sie angestoßen haben, stellt Antonina ihr Glas ab, sie hat den Wein darin nicht angerührt. Sie hat das Versprechen, das sie sich und Gott in der Datscha gab, gehalten.
Während sie sich warm anziehen, um auf den Platz hinauszugehen und dem Feuerwerk beizuwohnen, durchzuckt Antonina ein schmerzhafter Stich, als sie sieht, wie Ljoscha in den wattierten Mantel schlüpft, der Grischa gehörte. Sie fährt mit der Hand über den Ärmel und sieht Ljoscha lächelnd an.
Auf dem Weg zur Tür küsst sie die Ikone und bekreuzigt sich. Auf den Glauben, denkt sie und folgt dann Ljoscha, Anja und Mischa in die kalte Januarnacht hinaus, nachdem sie schnell die Tür hinter sich zugezogen hat, um die Wärme nicht entweichen zu lassen.
Serentui Katorga, Sibirien
Die Männer in der Hütte Nr. 83 haben für diesen Tag ihre Arbeit beendet. Man hat jedem eine Ration Kartoffelwodka gegeben, damit sie das neue Jahr begießen können. Zweiunddreißig Männer sind in der Holzhütte zusammengepfercht. Zwischen den sechzehn zweistöckigen Pritschen ist ein schmaler Gang, an dessen einem Ende sich die Tür befindet und am anderen ein Kübel, der als Toilette dient. Heute herrscht in der Hütte noch größerer Lärm und ein üblerer Geruch als sonst.
» Und was sind deine Pläne für 1863? « , fragt der neue Mann – er heißt Bogdan. Dann lächelt er – oder besser gesagt er zieht eine Grimasse – über seinen eigenen Scherz. » Pläne « , wiederholt er mit einem abfälligen Schnauben.
Grischa lässt die Blechtasse, die mit drei Fingerbreit Wodka gefüllt ist, zwischen den Händen kreisen. » Ich habe nur einen Plan, den einzig möglichen « , sagt er und sieht dem anderen in die Augen. Sie sind rotgerändert, wie Grischa bemerkt.
Bogdan war beim jüngsten Gefangenentransport dabei, der in Serentui ankam. Er ist ein sybirak: ein nach Sibirien verbannter Pole. Ihm wurde die Pritsche über der von Grischa zugewiesen. Der Mann, der zuvor darin geschlafen hatte, ist drei Tage vor Bogdans Ankunft gestorben, nachdem er Blut gespuckt und zu Haut und Knochen abgemagert war. Ein paar Männer, denen die unnatürliche Stille in der oberen Koje aufgefallen war, entwendeten heimlich die Decke, die Kleidung und Stiefel des Toten, bevor am nächsten Morgen die Wachen alarmiert wurden, die den Leichnam wegschafften.
Grischa bemerkte als Erster, dass der Mann, ein älterer Cellist, der früher für den Zaren gespielt hatte, tot war. Er mochte und respektierte ihn, und anstatt sich die Sachen anzueignen, die der tote Cellist nun nicht mehr benötigte, machte er das Kreuzzeichen über dessen Stirn und zog die Decke über dessen kaltes, wächsernes Gesicht, ehe sich die anderen anschlichen und sich von den Habseligkeiten des Toten bedienten. Er nahm es ihnen nicht übel: Er hatte das Gleiche auch schon getan.
Bogdan, dessen Schädel wie bei allen anderen Strafgefangenen
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