Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
Mitlowski ist einer der jüngsten Schüler. Nach wie vor geht er jeden Morgen mit der gleichen Begeisterung in sein Seminar wie an seinem ersten Tag.
Das Jahr 1862 hat Sankt Petersburg eine weitere Schule beschert: die Freie Musikschule, gegründet von Mili Alexejewitsch Balakirew. Und Antonina Leonidowna ist eine von drei weiblichen Lehrern, die eingestellt wurden, um begabte junge Frauen zu unterrichten, die sich keinen Privatunterricht leisten können. Es ist genau, wie Walentin Wladimirowitsch gesagt hat: In jüngster Zeit eröffnen sich auch für Frauen neue Möglichkeiten und Chancen.
Jeden Morgen begleitet sie ihren Sohn zum Konservatorium. Dann geht sie weiter zur Freien Musikschule, wo sie am Vormittag Unterricht erteilt. Nachmittags gibt sie Privatstunden in ihrer Wohnung. Die bescheidene Summe, die sie an der Freien Musikschule und mit Privatstunden verdient, reicht für die Miete und den Lebensunterhalt.
Der Klang des britischen Pianinos, das sie gekauft hat, ist gut, auch wenn es nicht mit dem wunderschönen Tafelklavier von Érard zu vergleichen ist, das viel zu mächtig für das kleine Wohnzimmer wäre. Mit dem Geld, das Ljoscha ihr brachte, wird es ihr möglich sein, das Gut die nächsten Jahre über zu halten. Die Fenster des Gutshauses von Angelkow sind mit Brettern zugenagelt und die übrig gebliebenen Möbel von Laken verhüllt. Antonina macht sich Sorgen, dass Mäuse die Bücher annagen und im Gehäuse des Klaviers Nester bauen könnten. Wer weiß, vielleicht will sie eines Tages wieder dort leben. Eines Tages gibt es womöglich einen Grund dafür, doch im Moment spielt sich ihr Leben hier ab, in Sankt Petersburg.
Nach dem Unterricht geht Mischa mit seinen neuen Freunden zu Fuß nach Hause, und bei schönem Wetter unternehmen er und Antonina mit Tinka und Dani einen Spaziergang in dem nahegelegenen Park. Dani ist Mischas Hund. Er ist klein, braun mit weißen Flecken und hat lange, flauschige Ohren; nachts darf er am Fußende von Mischas Bett schlafen. Tinka ist mittlerweile zu alt zum Spazierengehen, deshalb trägt Antonina sie.
Nach der Rückkehr aus dem Park essen sie zu Abend und unterhalten sich über Musikstücke, die sie gehört oder tagsüber gespielt haben. Anschließend macht Mischa seine Hausaufgaben oder übt. Die Wohnung am Iliitsch-Prospekt, zwei Blocks von der Fontanka, dem linken Arm der Newa, entfernt, ist klein, aber warm und behaglich.
» Mutter « , sagt Michail – mit seinen elfeinhalb Jahren sagt er nicht mehr Mama zu ihr –, » wann gehen wir, um das Feuerwerk anzusehen? «
Antonina ruft sich ins Gedächtnis, wie Mischa das Schauspiel verfolgte, das Konstantin jedes Jahr an Silvester auf Angelkow veranstaltete; im Geiste sieht sie noch immer den verzauberten Ausdruck auf Mischas Gesicht.
» Bald, mein Sohn. Ljoscha? Wann beginnt das Feuerwerk? «
Ljoscha wirft einen Blick auf die Uhr auf dem Klavier. » Wir sollten in einer Viertelstunde aufbrechen. «
» Zuerst stoßen wir an. Würdest du bitte Anja aus der Küche holen? Und sie soll die guten Gläser mitbringen. «
Ljoscha hat vor zehn Monaten geheiratet. Anja Fomowna ist klein, hat ein einnehmendes Wesen und kastanienrotes Haar, das wie Mahagoni glänzt. Die beiden sind Antonina und Mischa nach Sankt Petersburg gefolgt und wohnen ganz in der Nähe. Ljoscha hat eine gut bezahlte Stellung in den Armeeställen bekommen. Anja kommt jeden Morgen in Antoninas Wohnung, um einen Teil der Hausarbeit und die Wäsche zu erledigen, während Antonina arbeitet. An den Wochenenden bringt sie Antonina das Kochen bei.
Die kleine Nuscha ist zu ihren Eltern in das Dorf in der Nähe von Angelkow zurückgekehrt, einen Umschlag mit Rubelscheinen in der Tasche. Dem treuen Pawel hat Antonina eine Stellung bei den Bakanews besorgt; sie hat ihm erlaubt, alle persönlichen Dinge von Konstantin mitzunehmen.
Fjodor und Raisa kümmern sich um Angelkow. Sie wohnen in dem Haus mit den blauen Fensterläden. Olga hat bis zu ihrem Tod bei ihnen gewohnt; sie war zu alt, um ein neues Leben zu beginnen. Vergangenen Monat ist sie gestorben; Antonina fuhr nach Angelkow, sie wollte dabei sein, wenn die alte Frau auf dem kleinen Friedhof hinter der Erlöserkirche bestattet wurde. Bei dieser Gelegenheit ließ sie je einen Grabstein auf Konstantins und Walentins Grab errichten. Hinterher stand sie eine Weile am Grab des Geigers und betete für seine Seele.
Sie weiß jetzt, was in jenen schrecklichen Tagen auf Angelkow geschah. Ihr Blick gleitet zum
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