Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
meiner Sühne, Ljoscha. Ich muss bestraft werden. Und nie wieder jene zu sehen, die ich liebe, wird die größte Strafe für mich sein. « Ihr Blick gleitet wieder zu Mischa. » Auf Wiedersehen, Mischenka, mein Liebling. «
» Auf Wiedersehen, Lilja « , sagt Mischa. » Dein Umhang « , fügt er hinzu, » du musst ihn dir wieder umlegen. « Er will ihn abnehmen.
Doch Lilja streckt die Hände aus und bedeutet ihm, dass sie ihn nicht wiederhaben will. » Behalte ihn. Du musst dich warm halten. Bis deine Mama dich in ihre Arme schließt. «
Michail und Ljoscha blicken Lilja nach, die sich mit ruhigen Schritten entfernt. Der kalte Novemberwind bauscht ihren Rock und ihren leichten Schal. Ihr Kopftuch ist halb nach hinten gerutscht, ein gewohnter Anblick, und Ljoscha kann ihren Scheitel sehen.
Ihr entblößter Kopf hat etwas Verletzliches.
» Auf Wiedersehen, Schwester « , sagt er, obgleich sie schon zu weit weg ist, um ihn zu hören. Dann steigt er in die Troika und nimmt neben Mischa Platz.
Als Antonina am Morgen erwacht, ist es vollkommen still in Angelkow. In der Küche trifft sie nur Raisa, Pawel und Nuscha an. Sie fragt Raisa, ob sie wisse, wo Lilja ist, doch Raisa sagt, sie habe sie noch nicht gesehen. Und Grischa? Wieder schüttelt Raisa den Kopf.
Antonina wartet, dass irgendetwas geschieht: dass Grischa mit Michail zurückkehrt. Oder dass sich wenigstens Lilja blicken lässt. Doch niemand kommt. Am späten Nachmittag hat sie eine böse Vorahnung. Etwas Schlimmes muss geschehen sein, etwas, was sie vollends zerstören wird.
Sie geht zum Stall, aber dort ist nur Fjodor. Er erzählt ihr, dass Grischa, Lilja und Ljoscha am Morgen mit der Troika weggefahren sind. Sie folgt der gewundenen Straße zu Grischas Haus; drinnen ist es kalt, Grischa ist nicht da. Sie entzündet ein kleines Feuer im Kamin und setzt sich auf das Sofa. Sie lässt den Blick über seine Bücher und Erinnerungsstücke im Regal gleiten. Nach einiger Zeit steht sie auf und wandert im Zimmer umher, wirft einen Blick in die kleine, ordentliche Küche und sein Schlafzimmer. Sie setzt sich aufs Bett. Sie stellt sich vor, er wäre da und würde den Raum mit Leben füllen. Sie legt sich hin und deckt sich mit der dicken Steppdecke zu.
So vergeht eine Stunde.
Als das Feuer im Wohnzimmer ausgegangen ist, macht sie sich auf den Rückweg zum Gutshaus. Sie fühlt sich völlig hilflos. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so einsam war. Alle sind weg: Mischa, Konstantin, Walentin, Lilja. Grischa. Sogar Ljoscha.
Während sie durch den Schnee die Straße hinaufstapft, blickt sie sich um, nimmt die Schönheit der schneebedeckten Kiefern wahr, lauscht den Rufen der Weißrückenspechte und Kleiber, die auf den Zweigen hocken.
Als das Gutshaus in Sicht kommt, erblickt sie die Troika und ein fremdes Pferd vor der Veranda. Sie beschleunigt ihre Schritte. Sie kann zwei große Gestalten ausmachen. Bitte, fleht sie stumm, lass einen davon Grischa sein. Lass einen Grischa sein. Aber er ist nicht dabei. Ljoscha und ein uniformierter Mann stehen auf der Veranda. Sie geht noch schneller. Als sie die Stufen hinaufeilt, forscht sie in Ljoschas Gesicht, kann seinen Ausdruck aber nicht deuten. Sie schaut den anderen Mann an. Seiner Uniform nach zu schließen ist er Polizist. Doch plötzlich hat all das keine Bedeutung mehr, denn nun hört sie es.
Musik. Sie kommt aus dem Haus. Antonina schiebt sich an Ljoscha vorbei, der die Hand nach ihr ausstreckt und dessen Lippen sich bewegen, während er etwas zu ihr sagt. Doch sie kann ihn nicht verstehen. Sie hört nur noch Musik. Sie stößt die Haustür auf und rennt den breiten Flur entlang. Mit ihren Stiefeln, an deren Sohlen noch der Schnee klebt, rutscht sie über die Holzdielen.
Sie rennt zum Musiksalon, den Glinka-Klängen nach und ihrem Sohn entgegen.
EIN JAHR SPÄTER
Neujahrstag 1863
Kloster Seltotscheewa, Stadt Pskow
I m Kloster Seltotscheewa ist es ruhig. Die Schwestern von der heiligen Elisabeth feierten an Heiligabend die Geburt Christi, aber der Neujahrstag verstreicht, ohne dass man Notiz davon nimmt.
Lilja ist eine der Frauen, die unbezahlten Dienst im Kloster tun. Sie verrichten Arbeiten, die besondere Fertigkeiten erfordern. Die Schwestern reinigen die Klosterräume und arbeiten im Garten. Sie machen Gemüse und Obst ein, kochen und tragen das Essen auf, auch die Wäsche erledigen sie selbst. Aber keine von ihnen besitzt Liljas Geschick, derart feine Spitze herzustellen, wie sie für die
Weitere Kostenlose Bücher