Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
Chorhemden benötigt wird. Und so sitzt sie Tag für Tag in ihrer kleinen Klosterzelle, die mit nichts als einer Pritsche und einer Ikone ausgestattet ist. An dem hohen Fenster, durch das Tageslicht hereinströmt, fertigt sie die feinsten und filigransten Muster. Abgesehen von der Zelle, die sie bewohnt, bekommt sie zwei Mahlzeiten am Tag. Obgleich sie nicht Nonne ist, trägt sie ausschließlich Schwarz, als Zeichen ihrer Sühne und Entsagung von allem Weltlichen. Morgens und abends besucht sie die heilige Messe in der Kapelle. Die gesamte Liturgie hindurch betet sie ehrfürchtig – während des Großen und Kleinen Einzugs, der Lesung der Episteln und der Evangelien, der Göttlichen Liturgie, des Hochgebets, der heiligen Kommunion und der Spendung des Segens. In ihrem zellenartigen Zimmer fällt sie stündlich sowie beim Läuten der Kapellenglocken auf die Knie und betet.
Mit dem Schwinden des Tageslichts hat sie soeben die Handarbeit beendet, an der sie den ganzen Tag saß. Sie ist diesmal nicht für ein Chorgewand gedacht, sondern als Geschenk. Sie steht auf, streckt die Glieder und fährt mit den Fingern über den Stoffgürtel mit der zarten Stickerei. Sie glättet ihr Haar und kneift sich in die Wangen, um ein wenig Farbe hineinzubringen. Das Stundengeläut ist verklungen, und die einsetzende Stille birgt einen herrlichen Frieden.
Nachdem sich Lilja ehrfürchtig vor der Ikone bekreuzigt hat, verlässt sie ihre Zelle und geht den langen, schmalen Gang entlang. Leise pocht sie an die Tür von Schwester Ljudmila. Sie wird geöffnet. Als die junge Schwester sie erblickt, lächelt sie.
» Lilja Petrowna « , sagt sie.
Lilja erwidert ihr Lächeln. Sie hat das Schweigegelübde abgelegt, obgleich die Schwestern dieses Ordens ihm nicht unterliegen. Sie hält Schwester Ljudmila den Gürtel entgegen. Als die Schwester ihn nimmt, streifen Liljas Finger die der Nonne.
Schwester Ljudmila zieht ihre Hand zurück, ihr Lächeln erstirbt. » Du hast das für mich gemacht? « Sie betrachtet den Gürtel, ein Symbol der Keuschheit, den man an Feiertagen trägt.
Während die junge Frau den Gürtel bewundert, sieht Lilja sie die ganze Zeit an. Schwester Ljudmilas Gesicht ist schmal und blass, und ein klarer Blick geht von ihren grauen Augen aus. Unter ihrem schwarzen klobuk hat sich an der Schläfe eine winzige blonde Locke hervorgestohlen. Lilja hebt die Hand und berührt sie.
Sie weiß, dass sich unter dem Wimpel der jungen Nonne ein schlanker, weißer Hals verbirgt.
Eines Tages würde sie sich gern mit eigenen Augen davon überzeugen. Sie träumt von diesem Augenblick.
Iliitsch-Prospekt, Sankt Petersburg
Der Neujahrsbaum – die nowogodnaja jolka – ist wunderschön. Er wird gekrönt von einem weißen Stern, der an der Tannenspitze befestigt ist. Süßigkeiten und vergoldete Nüsse hängen an den Zweigen; der Engel von Angelkow, dessen Flügel Grischa wieder repariert hat, ist mit einer roten Satinschleife an einem Zweig befestigt.
In der Petersburger Wohnung ist nicht genügend Platz für eine große Tanne, wie sie sie auf Angelkow hatten. Aber diese Kiefer mit ihren symmetrischen, sanft ausladenden Zweigen ist ebenfalls ein Prachtexemplar. Ljoscha hat sie an Heiligabend selbst geschlagen; er hat Mischa in den Wald am Stadtrand mitgenommen, damit er sie aussucht. Sie zogen sie hinter dem Pferd her, dann stellten sie sie in einer Ecke des Wohnzimmers in einen Holzkübel und befestigten sie mit Steinen. Ein wenig neigt sie sich zur Seite, ein winziger Makel, über den niemand ein Wort verliert.
Unter dem Baum liegt ein Neujahrsgeschenk für Mischa – ein neues ledergebundenes Kompositionsbuch –, obwohl er natürlich längst aus dem Alter heraus ist, um noch zu glauben, dass Ded Moros und Snegurotschka, Väterchen Frost und das Mädchen Schneeflöckchen, es gebracht haben. Hat er im Jahr vor seiner Entführung noch an Väterchen Frost und Schneeflöckchen geglaubt? Antonina erinnert sich nur noch verschwommen an jene Zeit. Es ist mehr als ein Jahr vergangen, seit sie und Mischa ihr neues Leben begonnen haben.
Im Herbst wurde Michail am Konservatorium von Sankt Petersburg aufgenommen, das erst wenige Monate zuvor von dem Pianisten Anton Rubinstein gegründet wurde. Es ist die erste Musikschule Russlands, die es sich unter der Schirmherrschaft der Kaiserlichen Russischen Musikgesellschaft zum Ziel gemacht hat, jungen Menschen eine professionelle musikalische Ausbildung zu ermöglichen. Michail Konstantinowitsch
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