Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
um. Er kommt ihr entgegen und legt seine Hand auf ihren Unterarm, eine unvertraute Geste. » Gräfin « , sagt er. » Was das Pferd betrifft … «
» Das war töricht von dir, da hat mein Mann recht « , erwidert sie und erhebt die Stimme. » Du weißt doch, dass er noch kein geübter Reiter ist. « Das Blut aus Grischas Wunde befleckt den Kragen seines weißen Kittels. Ihr ist klar, dass Konstantin ihm die Schramme beigebracht hat.
Es ist sinnlos, wenn sie ihn auch noch bestraft. Sie braucht seine Unterstützung, um ihren Sohn zu finden.
Grischa sieht sie noch immer an. Als sie nichts mehr sagt, nickt er. » Wir warten, bis alle Pferde gesattelt sind. Dann teilen wir uns und durchkämmen den Wald in verschiedenen Richtungen. Wir werden die Kosaken finden, Gräfin. Und Ihnen Ihren Sohn heil zurückbringen. «
Als sie diese Worte hört, die mit so viel Selbstvertrauen gesprochen werden, durchläuft ein Beben Antonina. Sie blickt auf seine Hand hinab, die noch immer auf ihrem Arm ruht. Seit dem hysterischen Aufschrei der Magd vorhin im Hof hat sie zum ersten Mal das Gefühl, mit ihrer Sorge nicht allein zu sein. » Danke, Grischa « , sagt sie, die Stimme zu einem Flüstern gesenkt. » Danke. « Diese tröstenden Worte aus seinem Mund und die Tatsache, dass er ihrem Blick standhält, sind genau das, was sie jetzt braucht. Grischa ist wesentlich jünger als Konstantin und kräftiger; er wäre bestimmt nicht feige und schwach gewesen, wie Konstantin es vermutlich gewesen ist.
Es ist nun schon mehr als zwei Stunden her, dass Michail entführt wurde. Wie Grischa gesagt hat, werden sie die Kosaken finden. Man wird ihr Mischa zurückbringen, durchfroren und verängstigt und hungrig, aber unversehrt.
Ich werde dafür sorgen, dass man die Kosaken ins tiefste Sibirien verbannt. Bei diesem Gedanken strafft sich Antonina. Die Gefangenen, die quer durchs ganze Zarenreich in das weite Ödland im Osten geschickt werden, haben ihr immer ein bisschen leidgetan. Als sie einmal auf der Straße an einem Wagen mit Häftlingen vorbeikam, hatte sie sich angesichts der jämmerlichen Kreaturen, die in Ketten gelegt und mit Prellungen übersät waren, unwillkürlich gefragt, welche Verbrechen sie wohl begangen haben mussten, dass man sie zu einem solchen Exil verurteilt hatte. Aber von jetzt an wird sie kein Mitleid mehr empfinden.
Grischa nimmt die Hand von ihrem Arm und eilt die Stufen hinunter zu seinem Pferd, das Ljoscha ihm aus den Stallungen gebracht hat.
Antonina sieht zu, wie die Männer mit Konstantin an der Spitze aufbrechen. Obwohl sie keinen Mantel trägt, spürt sie die Kälte nicht. Nur wenige Stunden zuvor hat sie an der gleichen Stelle gestanden und beobachtet, wie ihr Sohn mit seinem Vater weggeritten ist.
Olga zieht sie sanft am Arm. Antonina lässt sich von der alten Frau ins Haus und in den Salon führen, wo Lilja gerade ein Tablett mit einem Glas Tee und einem Glasschälchen voll Konfitüre auf den Tisch stellt. Antonina starrt das Tablett an, als stünden exotische Dinge darauf, die sie noch nie gesehen hat, dann setzt sie sich auf das burgunderfarbene Samtsofa gegenüber dem blutbefleckten Kanapee. Olga legt einen Wollschal um ihre Schultern. Tinka, Antoninas Schoßhündchen – ein winziger Malteser –, springt hoch, legt sich neben sie und leckt sich die Vorderpfoten.
» Lilja « , sagt Antonina, » bring mir ein Glas Wein, bitte. « Aber ist dies nicht der Grund, warum Konstantin ihr heute Nachmittag Mischa weggenommen hat? Ist es nicht ihre Schuld, dass Konstantin mit ihrem Sohn einen Ausritt unternommen hat? Wenn sie nicht getrunken hätte, hätten sie und Konstantin nicht gestritten. Du widerst mich an, hat Konstantin gesagt. Ich will nicht, dass der Junge dich so sieht.
Sie war im Musiksalon und lauschte Michails Klavierspiel. Mit geschlossenen Augen saß sie in einem zierlichen Sessel neben dem Flügel. Während sie an ihrem Wein nippte, ließ sie sich von den Klängen berieseln.
Sein Spiel war vollkommen mühelos; sie wusste, dass ihr Sohn, obgleich es ihr ebenfalls nicht an Begabung mangelte, fortgeschrittener war als sie in seinem Alter. Was für eine Freude er ihr machte, nicht nur wenn er Klavier spielte, sondern in jeder Beziehung! Er war ihr erster Gedanke, wenn sie morgens erwachte, und ihr letzter, wenn sie ihn vor dem Einschlafen in ihre Gebete einschloss. Als sie ihm heute nach dem Mittagessen zuhörte, rief sie sich das erste Duett in Erinnerung, das sie gemeinsam gespielt hatten, als
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