Das Lied der Luege
Gefühl von Schadenfreude nicht verkneifen, wenn Esperanza immer wieder einen Ton nicht richtig traf und Theo daraufhin seine buschigen Augenbrauen unwillig runzelte. Am Ende der Probe kritisierte Theo Esperanza vor dem gesamten Ensemble.
»Mädchen, wenn du singen willst, musst du noch viel üben. Du triffst die Töne nicht und wirkst dabei starr wie eine Puppe.«
»Am Royal Court habe ich regelmäßig gesungen, niemand hat sich über meine Vorträge beschwert …«
»Dann wärst du eben an dem Theater geblieben.« Theo konnte richtig böse werden, wenn jemand es wagte, ihn zu unterbrechen oder gar seine Meinung in Frage zu stellen. »Wenn du bei uns bleiben willst, dann wirst du das tun, was ich dir sage. Verstanden?« Esperanza presste die Lippen zusammen und nickte stumm. »Du bist zwar die Zweitbesetzung der Betty, ich hoffe jedoch, dass Peggy Sue mir keinen Grund gibt, dich einsetzen zu müssen, denn an deren Leistung reichst du bei weitem nicht ran«, fuhr Theo fort, und bei seinen Worten ging Susan das Herz auf. »Ein Singspiel ist eben etwas völlig anderes als die Iphigenie auf Tauris oder sonstige tragischen Rollen. Hier müssen die Lebensfreude und der Spaß aus jedem deiner Worte, aus jedem deiner Blicke und aus jeder Geste hervorsprudeln und auf das Publikum überspringen. Wenn du lieber tragische Rollen spielen willst, die einen Heldentod auf der Bühne erfordern, dann bist du am Blue Horizon falsch.«
Esperanza schien sich Theos deutliche Worte zu Herzen zu nehmen. Beinahe demütig faltete sie die Hände vor dem Körper, senkte den Kopf und murmelte: »Es tut mir leid, Theo. Ich verspreche, noch mehr zu proben.«
Beinahe hätte sie Susan leidgetan, wenn sie nicht gleich darauf ein ärgerliches Funkeln in Esperanzas Augen gesehen hätte, mit dem sie Theo wütend nachschaute, als dieser den Raum verließ. Esperanza scherte sich einen Dreck um Theos Meinung und Anweisung, und Susan vermutete, dass ihnen mit dieser Person noch viel Ärger ins Haus stehen würde.
Doro, die die Szene mitverfolgt hatte, trat zu Susan.
»Aus früheren Zeiten kenne ich eine Garderobiere, die im Royal Court arbeitet.« Sie zwinkerte Susan verschwörerisch zu. »Ich glaube, ich sollte meine alte Bekannte mal auf eine Tasse Tee einladen. In der Regel sind Garderobenfrauen ganz genau über alle Vorgänge am Theater informiert. Besonders über die pikanten …«
Susan nickte lächelnd und hakte sich bei Doro unter.
»Apropos Tee – ich könnte jetzt eine Tasse gebrauchen. Kommst du mit zu Meggie? Vorhin hörte ich jemanden sagen, sie habe heute wieder ihren köstlichen Apfelkuchen gebacken.«
Doros Augen leuchteten, zugleich klopfte sie sich auf ihre Hüften.
»Ich dürfte ja nicht, hatte nämlich vor, ein paar Pfund loszuwerden, aber Meggies Apfelkuchen kann ich mir einfach nicht entgehen lassen.«
Meggie – niemand wusste, wie sie eigentlich mit Nachnamen hieß – führte ein kleines Lokal, nur einen Block vom
Blue Horizon
entfernt, das alle Theaterleute der Gegend gerne aufsuchten. Neben köstlichen Speisen zu angemessenen Preisen schuf Meggie durch ihre herzliche, mütterliche Art eine warme Atmosphäre, in der man sich einfach wohl fühlen musste. Ihr Apfelkuchen mit gerösteten Mandelsplittern war weit über die Gegend hinaus berühmt, und Susan wusste, sie mussten sich beeilen, um noch ein Stück – am besten warm aus dem Ofen – zu ergattern.
»Wartet, ich komme mit.« Esperanza hatte ihre Unterhaltung gehört. »Ich hole nur schnell meinen Mantel.«
Doro rollte mit den Augen, und Susan seufzte leise. Sie hatte keine Lust, mehr Zeit als notwendig mit Esperanza zu verbringen, aus Höflichkeit schlugen sie ihre Begleitung jedoch nicht aus. Sie waren immerhin Kolleginnen und mussten im Team miteinander auskommen und auf der Bühne harmonieren. Unstimmigkeiten oder gar ein Streit wirkten sich unmittelbar auf das Spiel aus, und Theo verlangte, dass Privates keinen Einfluss auf ihre Arbeit haben durfte.
Obwohl Meggies Apfelkuchen wie gewohnt köstlich und ofenwarm war, wollte er Susan heute nicht schmecken. Mit der Gabel stocherte sie in dem Kuchen herum und sah, dass es Doro ähnlich erging. Die beiden Frauen ließen Esperanzas Gerede schweigend über sich ergehen.
»Bereits als Kind war mir klar, dass ich Schauspielerin werden würde.« Esperanza warf ihr schwarzes Haar, das sie entgegen der herrschenden Mode offen trug, mit einer eleganten Bewegung zurück. »Mein Vater war nämlich Musiker und
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