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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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meinte es gut, denn die Sonne schien angenehm warm, und es zeigte sich keine Wolke am stahlblauen Himmel.
    Wenige Meter neben Susan hielt ein offener Landauer. Zuerst schenkte Susan der Kutsche keine Beachtung, denn in Knightsbridge herrschte um diese Tageszeit reger Verkehr, dann jedoch drang die Stimme der Dame, die dem Gefährt entstieg, an ihre Ohren.
    »Danke, Charles, ich erledige jetzt meine Einkäufe. Hol uns bitte in zwei Stunden wieder hier ab.«
    Susan erstarrte für einen Moment, dann begannen ihre Beine, unkontrolliert zu zittern. Schnell huschte sie in einen schmalen Durchgang zwischen zwei Häusern und spähte vorsichtig auf die Straße. Sie hatte sich nicht getäuscht – nur eine Armlänge von ihr entfernt stand Lavinia Callington. Obwohl seit ihrer letzten Begegnung Jahre vergangen waren, hätte sie deren Stimme überall wiedererkannt. Lavinia hatte sich kaum verändert. Sie war natürlich ein wenig älter geworden und sah in ihrem hellgelben, luftigen Kleid sehr elegant aus. Der überraschende Anblick von Lavinia war es aber nicht allein, was Susan in Aufruhr versetzte, denn an Lavinias Hand klammerte sich ein kleines Mädchen, das staunend die zahlreichen Geschäfte der Straße anschaute. Das Kind war gekleidet wie eine kleine Prinzessin: Rüschchen und Spitzen säumten ihr rotes Kleid, und auf ihrem hellen, braunen Haar, in dem die Sonne Lichtreflexe aufleuchten ließ, saß ein kleiner, kecker Hut mit einer kurzen, wippenden Feder.
    »Mami, ich möchte ein Eis.«
    Die Stimme ihrer Tochter zu hören, schnitt Susan ins Herz. Am ganzen Körper zitternd, lehnte sie sich gegen die Hauswand und atmete heftig.
    »Zuerst müssen wir unsere Einkäufe erledigen, mein Kleines«, antwortete Lavinia. »Wenn du schön brav bist, gehen wir nachher in ein Café, und du bekommst den größten Eisbecher, den es in ganz London gibt.«
    Die Kleine lachte, und Susan sah, wie die beiden das Geschäft betraten, in dem sie den Hut gekauft hatte. Wäre Susan nur wenige Minuten später oder Lavinia früher gekommen, dann wären sie sich in dem Laden begegnet.
    »Anabell …« Susan flüsterte den Namen und unterdrückte mühsam die Tränen, die ihr in die Augen stiegen. Wie hatte sie jemals glauben können, ihre Tochter zu vergessen? Anabell ging es offensichtlich gut. Das Mädchen war für ihr Alter groß gewachsen, wenngleich mit einer zierlichen Figur, und hatte gesunde runde, rote Wangen und eine klare, helle Stimme. Und sie war nicht
ihre
Tochter, sie war Anabell Callington, die künftige Erbin eines großen Vermögens.
     
    Die unerwartete Begegnung hatte Susan so sehr aus der Bahn geworfen, dass sie am Abend bei der Generalprobe unkonzentriert war. Nach dem dritten Patzer, als sie ihren Gesangseinsatz verpasste, hieb Theo mit der Faust auf sein Pult.
    »Peggy, reiß dich zusammen! Was ist heute mit dir los, gestern hat doch alles problemlos geklappt.«
    »Es ist ein gutes Zeichen, wenn die Generalprobe nicht funktioniert«, sprang Doro für Susan in die Bresche. »Theo, du wirst sehen, Peggy wird morgen wie ein Engel spielen und singen.«
    »Hoffentlich«, brummelte Theo und zog die Stirn in Falten. »Also, wir versuchen es noch mal.«
    Dieses Mal ging alles glatt, und Susan war erleichtert, als das Lied zu Ende war. Sie hatte jetzt etwa fünf Minuten Pause, bis sie wieder auf die Bühne musste, und wollte die Zeit nutzen, ein Glas Wasser zu trinken, denn ihre Kehle war wie ausgedörrt. Später wusste Susan nicht mehr, wie sie die Kabelrolle, die direkt am Abgang der Bühne lag, übersehen konnte. Ihr rechter Fuß verfing sich in dem Gewirr der Kabel, und bevor sie haltsuchend nach etwas greifen konnte, stürzte sie kopfüber die drei Stufen der Treppe hinunter. Hart schlug sie mit der rechten Schulter auf die dort stehende Kiste auf, in der kleinere Requisiten, die ständig auf der Bühne benötigt wurden, gelagert waren.
    »Peggy!« Sie hörte Hetty schreien, und einen Moment später waren ihre Kolleginnen und auch Theo bei ihr. »Ist dir etwas geschehen?«
    Susan wollte schon den Kopf schütteln, da spürte sie den wahnsinnigen Schmerz, der von ihrer Schulter aus in den Arm und in die Brust ausstrahlte, und sie konnte nur schluchzend nicken.
    Doro und Hetty brachten Susan zum Arzt, der einen Block weiter seine Praxis hatte und alle Angestellten des Theaters betreute. Glücklicherweise hatte er seine Wohnung unmittelbar über den Praxisräumen, so war er sofort zur Stelle. Nach einer gründlichen Untersuchung

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