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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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Stunden fehlten. Von dieser Geschichte würde hier in London niemand jemals erfahren.
     
    Es war kurz vor Mitternacht, und Susan wollte gerade schlafen gehen, als es an ihrer Wohnungstür klopfte. Zuerst wollte Susan den späten Besucher ignorieren, dann jedoch sagte sie sich, dass vielleicht etwas geschehen sein könnte, darum öffnete sie die Tür einen Spalt. Davor stand Doro, die sie entschuldigend ansah.
    »Ich weiß, es ist spät, aber ich muss mit dir sprechen.«
    Mit einem Schlag war Susan hellwach. Im Wohnzimmer griff Doro nach einer Flasche Gin, schenkte sich ein Glas ein, leerte es mit einem Schluck, dann sagte sie: »Theo hat sie engagiert.«
    »Was?« Perplex ließ sich Susan auf das Sofa fallen. »Diese hochnäsige, halbspanische Ziege gehört zu unserem Ensemble? Was soll sie spielen? Etwa die Hauptrolle in dem neuen Stück?«
    Doro hob beschwichtigend die Hand.
    »Ich verstehe, dass du dich ärgerst. Diese Montoya ist wirklich der unverschämteste Mensch, der mir jemals begegnet ist, aber ich habe sie beim Vorsprechen gesehen und gehört. Sie kann wirklich was. Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber als sie auf der Bühne stand und einen Monolog aus der Iphigenie vortrug, war es, als würden nicht nur sie, sondern auch Theo und ich in eine andere Welt versetzt. Theo hatte keine andere Wahl, als sie zu engagieren, denn ein solches Talent lässt er sich nicht entgehen.«
    Susan presste die Lippen zusammen. Leise und undeutlich murmelte sie: »Wird sie die Hauptrolle in dem neuen Stück spielen?«
    Doro schüttelte den Kopf. »Theo weiß, warum er dir die Rolle versprochen hat, auch wird er einer Neuen niemals gleich die Hauptrolle geben. Nein, Esperanza wird sich erst in einer Nebenrolle beweisen müssen. Allerdings …« Doro zögerte, und Susan erkannte an ihrem veränderten Tonfall, dass das noch nicht alles war.
    »Allerdings was?«, fragte sie gespannt.
    »Theo möchte, dass sie die Hauptrolle ebenfalls lernt. Als Zweitbesetzung, falls du krank werden solltest.«
    »Und Hetty? Sie war als Zweitbesetzung eingeplant.«
    »Du weißt, dass Hetty nicht dein Format und dein Können hat. Esperanza ist eine weitaus bessere Wahl.« Doro zuckte mit den Schultern. »So ist das Theater eben – Hetty wird sich damit abfinden müssen.«
    Ja, Susan wusste, wie es in der Welt, in der sie seit Jahren lebte, zuging. Richtige Freundschaften unter den Schauspielerinnen gab es keine, wenngleich man sich gut verstand. In erster Linie zählte der Erfolg, und jede wollte die Beste sein und die gutbezahlten Rollen bekommen. Sie mochte Hetty, sie war ein nettes Mädchen und auf der Bühne ganz passabel. Seit einem Jahr war Hetty die Zweitbesetzung der Rollen, die Susan spielte, es war jedoch noch nie nötig gewesen, dass Hetty für sie einsprang. Wenn diese Esperanza wirklich so gut war, und zudem war sie die schönste Frau, die das
Blue Horizon
aufzuweisen hatte, dann war es nur eine Frage der Zeit, bis sie Susan ausbootete. Zum ersten Mal bereute Susan, die Angebote anderer Theater nicht angenommen zu haben. Sie lächelte bitter. Vielleicht war es noch nicht zu spät, und sie sollte dort vorstellig werden, bevor Theo sie in die zweite Reihe abschob.
    Doro setzte sich neben sie und legte eine Hand auf Susans Schultern.
    »Mach dir nichts draus, Mädchen. Wie Theo immer zu sagen pflegt: Du bist unser bestes Pferd im Stall. Die Montoya mag vielleicht gut auf der Bühne sein, menschlich wird sich jedoch niemand um sie scheren. Ich denke, in zwei, drei Monaten wird sie vom Blue Horizon die Nase voll haben, und wir werden sie wieder los sein.«
    »Da bin ich nicht so sicher«, murmelte Susan. »Sei mir bitte nicht böse, aber es war ein langer Tag, und ich bin müde.«
    Doro verstand. Sie erhob sich, nahm ihren Mantel und ging zur Tür.
    »Morgen um zehn Uhr beginnen die Proben«, erinnerte sie Susan. »Ich bin sicher, du wirst alle anderen wie gewohnt an die Wand spielen.«
    Susan antwortete nur mit einem müden Lächeln. Als sie wenig später im Bett lag, konnte sie lange nicht einschlafen. Die letzten zwei Jahre waren die schönsten und erfolgreichsten ihres Lebens gewesen, doch alles war vergänglich. Würde sie jetzt durch Esperanza Montoya ersetzt werden, so dass in kurzer Zeit niemand mehr ihren Namen kannte? Unter der Decke ballte sie die Hände zu Fäusten. Nein, das würde sie nicht zulassen! Sie war eine gute Schauspielerin und wollte sich nicht so einfach die Butter vom Brot nehmen lassen. Susan war es

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