Das Lied der Luege
verbrachte Susan mit Doro, die ebenso wie sie selbst keine Angehörigen hatte. In ihrer Wohnung schmückte Susan einen kleinen Tannenbaum, und die beiden Frauen kochten gemeinsam. Danach gingen sie im Hyde Park spazieren. Das Wetter mit Schneeregen und frostigen Temperaturen lud zwar nicht zu einem Aufenthalt im Freien ein, trotzdem tummelten sich zahlreiche Menschen im Park. Hauptsächlich waren es Familien mit Kindern, die lachend über die Wege sprangen, ungeachtet dessen, dass dabei ihre Röcke und Hosen beschmutzt wurden.
Den Jahreswechsel zu 1912 feierte das Ensemble des Theaters gemeinsam. Es gab ein kaltes Büfett, zu dem jeder etwas beisteuerte, und um Mitternacht knallten die Champagnerkorken. Susan stieß mit ihren Kollegen und Kolleginnen an, nippte jedoch nur an ihrem Glas. In Gedanken erneuerte sie ihren Vorsatz, künftig ein ruhigeres Leben zu führen und sich wieder voll und ganz auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie freute sich auf das neue Stück, wenngleich sie in diesem nur die Schwester der Hauptdarstellerin spielen sollte.
You never can tell
war eine turbulente und überhaupt nicht dramatische Komödie, die bereits 1899 am
Royal Court Theatre
uraufgeführt, danach jedoch in der Versenkung verschwunden war. In Absprache mit dem Autor hatte Theo die Inszenierung nun etwas moderner gestaltet, mit Musik und Tanzeinlagen ausgestattet, so dass daraus ein Schauspiel wurde, wie es die Besucher des
Blue Horizon
erwarteten. Es würde aber Liebhaber klassischer Stücke anziehen und dadurch Theo ein größeres Publikumsspektrum eröffnen. Natürlich spielte Esperanza Montoya die tragende Rolle der Gloria, während Susan die Dolly übernahm. Allerdings wurde Susan als Zweitbesetzung für die Gloria eingesetzt und lernte neben ihren eigenen Parts auch die komplette andere Rolle. Die Rolle von Glorias Mutter spielte Hetty, die dafür zwar auf älter geschminkt werden musste, aber endlich wieder eine größere Rolle erhielt. Die ersten Proben verliefen vielversprechend, und Esperanza brillierte auf der Bühne. Sie hatte an ihrer Stimme und ihrer Ausdrucksweise gearbeitet, und niemand konnte bestreiten, dass sie die Bühne dominierte. Da die Handlung von
You never can tell
in einem englischen Seebad im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert spielte, entfiel die Anfertigung von Kostümen, da die Schauspieler und Schauspielerinnen ihre eigene Kleidung trugen. Esperanzas Kleider waren meistens weit ausgeschnitten, ohne jedoch ordinär zu wirken, und brachten ihr üppiges Dekolleté hervorragend zur Geltung. Susan dachte an Sarahs Worte und an den Begriff Sex-Appeal, der bei Esperanza hundertprozentig zutraf.
Die Premiere fand Ende Februar statt, und das Theater war bis auf den letzten Platz gefüllt. Bis zuletzt hatte Theo gehofft, der Autor George Bernard Shaw würde seiner Einladung folgen und sich das Stück ansehen, doch der große Dramatiker weilte leider nicht in London. Der Stimmung tat dies keinen Abbruch, und das Publikum war begeistert. Wie nach Premieren üblich, ging das Ensemble, nachdem der letzte Vorhang gefallen war, zu Meggie, um den Erfolg gebührend zu feiern. Susan fiel gleich auf, dass Theo und Esperanza fehlten. Sie wandte sich an Doro.
»Weißt du, wo Theo ist?« Ihr Verdacht, dieser würde zusammen mit seiner Hauptdarstellerin den Erfolg lieber in trauter Zweisamkeit feiern, behielt sie für sich.
Doro zuckte die Schultern. »Bevor ich ging, habe ich mitbekommen, dass zwei Herren Theo in seinem Büro aufsuchten. Sie sahen beide etwas … seltsam aus.«
»Seltsam?« Susan runzelte die Stirn. »Wie seltsam? Bedrohlich? Hoffentlich ist Theo nichts geschehen. Vielleicht sollten wir rübergehen und nachsehen, ob …«
Susan war schon aufgesprungen, aber Doro hielt sie zurück.
»So meinte ich es nicht, sondern ich denke, es handelt sich um Ausländer. Ich konnte zwei, drei Worte aufschnappen. Die Männer sprachen zwar Englisch, aber mit einem seltsamen Akzent. Und ihre Anzüge waren nach einer Mode geschnitten, die ich hier noch nie gesehen habe.«
»Um unseren guten Theo braucht ihr euch nicht zu sorgen.« Marty hatte die letzten Worte gehört. Er setzte sich neben Susan und lachte vergnügt. Er hatte die Rolle des Zahnarztes, in den sich Gloria verliebt, übernommen und war so in den Genuss gekommen, Esperanza mehrmals im Arm halten und sie im Schlussakt sogar küssen zu können, was ihm sichtlich gefiel, obwohl er verheiratet war. »Wahrscheinlich handelt es sich um zwei Kritiker,
Weitere Kostenlose Bücher