Das Lied der Luege
alles mitverfolgt hatte. »Ja, bin ich denn hier in einem Affenhaus? Ihr macht euch jetzt fertig, und dann möchte ich auf der Bühne die Leistung sehen, für die ich euch bezahle. Übrigens nicht schlecht bezahle, wenn ich euch daran erinnern darf. Wenn es jedoch jemandem hier nicht mehr passt« – er deutete zur Tür –, »der kann jederzeit gehen. Ich dulde keinen Zwist und Hader in meiner Truppe. Habt ihr das verstanden?«
Susan senkte betroffen den Kopf, Doro grummelte unverständliche Worte vor sich hin, Esperanza jedoch setzte ihr bezauberndes Lächeln auf.
»Ach, Theo, reg dich doch nicht so auf, das ist nicht gut für dein Herz. Du weißt, dass ich professionell genug bin, um nicht nur eine gute, sondern eine hervorragende Leistung zu zeigen. Niemand, auch nicht Sarah Bernhardt, wird auch nur den kleinsten Grund zur Klage haben.«
»Hm, dann ist ja gut«, brummte Theo und stieß mit der Spitze seines Stockes wie zur Bekräftigung zweimal auf den Boden. Seit einiger Zeit plagten ihn Schmerzen in der linken Hüfte, weswegen er immer häufiger nur mit Hilfe eines Stockes gehen konnte.
Trotz des unerfreulichen Streits verlief die Aufführung ohne Zwischenfälle. Obwohl sie in englischer Sprache spielten und sangen, schien das Publikum begeistert zu sein und sparte nicht mit Applaus. Susan war hocherfreut, als nach der Vorstellung ein Herr in ihrer Garderobe erschien und sie bat, ihn in ein nahe liegendes Lokal zu begleiten, in dem Sarah Bernhardt auf sie wartete. Madame Sarah wolle aber nur sie treffen, was Susan sehr stolz machte. Sie beeilte sich mit dem Abschminken und Umziehen und bemerkte, dass Esperanza beleidigt war. Bevor sie ging, konnte sie sich die Spitze: »Ich werde meiner Freundin sagen, dass du am liebsten in Paris bleiben möchtest«, nicht verkneifen.
Das Theater lag in einer ruhigen Seitenstraße am Montmartre, und das Lokal war nur wenige Schritte entfernt. Es war klein, mit niedriger Decke, runden Tischen mit einfachen Stühlen, und in der Luft waberten Rauchschwaden, und es roch nach Wein. Es handelte sich um einen dieser typischen Treffpunkte für Künstler, von denen es in Paris zahllose gab und die man in London leider vergeblich suchte. Sarah Bernhardt saß an einem kleinen Tisch in der hinteren Ecke. Während Susan sich ihr näherte, musterte Sarah die junge Freundin kritisch von oben bis unten. Statt einer Begrüßung und einem Lächeln, sagte Sarah mit gerunzelter Stirn: »Diese kleine Rolle ist deiner nicht würdig. Warum spielst du nicht die Hauptrolle?«
»Im Frühjahr war ich einige Zeit krank und konnte nicht auftreten, da wurde die Hauptrolle mit Esperanza Montoya besetzt. Sie ist doch sehr gut …«
»Ach was!« Rigoros unterbrach Sarah sie mit einer Handbewegung. »Sie hat ein hübsches Lächeln, einen wogenden Busen und ein kokettes Auftreten, als Schauspielerin ist sie jedoch völlig ungeeignet.«
Sarahs Worte gingen Susan runter wie Öl. Sie bedauerte nur, dass Esperanza diese nicht hören konnte.
»Das Publikum in London liebt sie, und Theo, der Regisseur und Theaterleiter, hält große Stücke auf sie und gibt ihr immer die Hauptrollen.«
Sarah lächelte süffisant. »Wahrscheinlich geht sie mit ihm ins Bett.«
Susan stockte der Atem. Zum Glück kam in diesem Moment der Ober und fragte nach ihren Wünschen, so war sie einer direkten Antwort enthoben. Nachdem der Rotwein gebracht und Susan am Glas genippt hatte, sagte sie leise: »Ich glaube nicht, dass Theo und Esperanza etwas miteinander haben. Er ist doch so viel älter als sie.«
Sarah schüttelte lächelnd den Kopf und hob mahnend den Zeigefinger.
»Gerade alte Männer fühlen sich von den Avancen junger Frauen, besonders wenn sie so hübsch sind wie diese Esperanza, magisch angezogen und fallen auf deren Liebesschwüre herein. Ich möchte hier niemanden verdächtigen oder gar eine falsche Behauptung aufstellen, aber meine Lebenserfahrung sagt mir, dass deine Kollegin ihren Ruhm nicht nur aufgrund ihrer Leistung errungen hat. Auf jeden Fall setzt sie auf der Bühne mehr auf ihren Sex-Appeal als auf ihr schauspielerisches Können.«
»Sex … was?« Susan hatte den Ausdruck nie zuvor gehört.
»Sex-Appeal«, wiederholte Sarah und lächelte süffisant. »Das ist ein Ausdruck, der in Amerika verwendet wird, wenn jemand – meist eine Frau – über die gewisse Ausstrahlung verfügt, die Männer nur an das
eine
denken lassen. Du verstehst, was ich meine?« Sarah zwinkerte Susan verschwörerisch
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