Das Lied der Luege
»In drei Monaten werde ich die Stadt erobert haben. Der Broadway! New York! Kinder, da ist das Leben, nicht hier in unserem öden, alten London.« Ihre Wangen waren stark gerötet, und in ihren dunklen Augen glomm ein Schimmer, der einem Fieber gleichkam.
»Jaja, und bald werden alle Bühnen der Welt nach dir rufen«, entgegnete Joan spöttisch und wandte sich zur Tür. »Du solltest jetzt deine Träume zur Seite schieben. In einer Stunde ist Probe, und wir müssen uns noch umziehen. Du willst doch bei deinem letzten Auftritt im alten, staubigen London glänzen, oder?«
»Ach, du bist ja nur neidisch.« Überheblich zog Esperanza die Augenbrauen hoch. »Deine plumpen Füße will in Amerika nämlich niemand sehen und …«
»Hört auf, euch zu streiten!« Energisch fiel Susan der Kollegin ins Wort. »Joan hat recht, wir müssen uns auf die Probe vorbereiten. Esperanza, du weißt, dass heute die Mehrheit des Publikums nur deswegen kommt, um dich ein letztes Mal zu sehen. Theo hat ja zur Genüge dafür gesorgt, dass ganz London weiß, dass die große Esperanza Montoya an den Broadway nach New York geht.«
Esperanza stand auf und sah verächtlich in die Runde. Ihr Blick blieb auf Susan hängen, als sie sagte: »Keine Sorge,
ich
beherrsche meine Rolle bis ins letzte Detail. Ich frage mich nur, wie das Publikum reagiert, wenn du ab nächster Woche die Gloria spielen wirst. Als Zweitbesetzung bist du ja ganz passabel, aber …«
Sie ließ den Satz unvollendet und rauschte, einer Diva gleich, zur Tür hinaus. Susan presste die Lippen zusammen. Obwohl sie Esperanza ebenso wenig mochte wie alle Kolleginnen, war sie dem Star gegenüber nie unfreundlich gewesen. Darum verletzten Esperanzas Worte Susan, auch wenn sie wusste, dass sie ihre Sache gut machen würde. Heute Abend würde sie ein letztes Mal in der Nebenrolle der Schwester, die in jedem Akt nur drei oder vier Dialoge hatte, auf der Bühne stehen, ab nächster Woche dann jedoch die Hauptrolle spielen. Es würde wie früher sein, bevor Esperanza in ihr Leben getreten war und sie zur Seite gedrängt hatte. Susan wünschte der Kollegin wirklich großen Erfolg in Amerika. Natürlich war sie nicht so selbstlos, dies aus Sympathie für Esperanza zu tun, sondern in erster Linie, weil diese dann nicht wieder nach London zurückkehren und Susan wieder die Nummer eins am
Blue Horizon
sein würde.
Nachdem Theo von dem Angebot für Esperanza erfahren hatte, hatte er Susan sofort wieder die Hauptrolle angeboten, da sie diese als Zweitbesetzung auch perfekt beherrschte. Diesen einen letzten Abend, an dem Esperanza Montoya der unbestrittene Star auf der Bühne war, würde Susan auch noch überstehen. Sie würde lächeln, wie sie das die vergangenen Monate getan hatte, und bei der anschließenden Party, die Doro für Esperanza zum Abschied organisiert hatte, wohlwollende Worte für die Kollegin finden – wie es alle taten. Ab morgen wäre dieser Spuk dann endgültig für sie vorbei.
Es war um die Mittagszeit, als die Probe begann. Obwohl sie das Stück bereits mehrmals aufgeführt hatten, bestand Theo vor jeder Aufführung auf einer Probe. Susan schätzte seine Professionalität, wenngleich Esperanza dies als reine Zeitverschwendung betrachtete. Die erste Viertelstunde verlief reibungslos, doch dann bemerkte Susan, wie Esperanza sich bei ihrem Text zweimal versprach. Theo runzelte die Stirn, klopfte mit seinem Stock auf den Boden und forderte sie auf, die Szene zu wiederholen. Joan und Hetty kicherten hinter vorgehaltener Hand, und auch Susan konnte sich ein leichtes Gefühl der Schadenfreude nicht verkneifen, dass die
große
und
ach so perfekte
Esperanza Montoya auch einmal Fehler machte. Dann jedoch bemerkte Susan, wie Esperanza leicht schwankte und haltsuchend nach einer Stuhllehne griff, obwohl das in dieser Szene nicht vorgesehen war. Auch war ihr Gesicht immer noch unnatürlich gerötet, und sie verhaspelte sich erneut.
»Esperanza, was soll das?« Theo war sichtlich verärgert. »Auch wenn es heute Abend deine letzte Vorstellung an meinem Theater ist, erwarte ich volle Konzentration, denn ich bezahle dich schließlich. Noch bist du nicht der große Star in Amerika, der sich alles erlauben kann. Also reiß dich zusammen.«
»Es tut mir leid, Theo.« Esperanza wischte sich über die schweißbedeckte Stirn, obwohl es im Saal kühl war. »Mir ist schrecklich warm, und ich habe Kopfschmerzen.«
Die nächste Szene meisterte Esperanza ohne Patzer, doch als die
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