Das Lied der Luege
höchstpersönlich ein Schreiben aufgesetzt.«
»Schreiben? Pah!« Die Sprecherin hinter Susan spuckte verächtlich aus. »Seit Jahren reichen wir Petitionen ein, verfassen Schreiben und versuchen, die Presse von unseren Zielen zu überzeugen. Mit welchem Erfolg? Mit gar keinem! Das wissen Sie ebenso wie ich.«
Mrs. Pankhurst nickte zustimmend.
»Sie haben ohne Zweifel recht, unser Kampf auf der friedlichen Ebene hat bisher wenig Erfolg gezeigt. Als Dutzende von euch versuchten, durch eine Demonstration … ich betone, durch eine
friedliche
Demonstration, die Freilassung von Lucy Sheldon zu erreichen, wurdet ihr brutal misshandelt. Sechsunddreißig von uns wurden verhaftet. Obwohl einige wieder entlassen worden sind, wird achtzehn von uns wegen Sachbeschädigung und Widerstand gegen die Staatsgewalt der Prozess gemacht. Aus zuverlässiger Quelle weiß ich, dass unsere tapferen Mitstreiterinnen in den Hungerstreik getreten sind. Die Regierung kann dies nicht erneut ignorieren.«
»Bis dahin ist Lucy Sheldon aber tot!« Susan wunderte sich nicht, dass Doro aufsprang und diese Worte rief. »Wir müssen schneller etwas unternehmen.«
Susan wurde von der herrschenden Euphorie angesteckt. Sie war wie eine Woge, die erst als kleine Welle von Mrs. Pankhurst aus entstanden war und mit jedem Wort größer, mächtiger und auch gewalttätiger wurde. Niemand konnte sich dem entziehen, selbst der eher ruhigen Rosalind glühten die Wangen.
»Immerhin haben die Demonstrationen und die Straßenschlachten, die nach Ihrer Verhaftung, Mrs. Pankhurst, im ganzen Land stattfanden, Ihre Entlassung bewirkt«, gab Mr. Hardy zu bedenken und erntete damit erneuten Beifall.
Von links betrat eine junge Frau das Podium und rief: »Wir sollten das Gefängnis in Brand setzen!«
»Das ist Estelle Sylvie Pankhurst«, raunte Doro Susan zu. »Die zweitälteste Tochter von Emmeline. Sie ist besonders radikal, und ihre Vorstellungen werden von ihrer Mutter nicht immer gebilligt.«
Zur Bestätigung von Doros Worten sagte Mrs. Pankhurst streng: »Sylvia, du weißt, dass ich diese Brandstiftungen nicht gutheiße. Es könnten dabei Menschen verletzt oder gar getötet werden. Wir kämpfen um unsere Freiheit und sind keine Terroristen, denen das Leben anderer Menschen gleichgültig ist.«
Bei dieser öffentlichen Kritik zog eine tiefe Röte über Sylvia Pankhursts Gesicht. Sie öffnete den Mund zu einer scharfen Erwiderung, da ergriff Keir Hardy wieder das Wort.
»Meine Damen, meine Herren, ich schlage vor, wir ziehen morgen zur Downing Street und demonstrieren friedlich vor dem Haus des Premierministers. Sonntagvormittags frühstückt Mr. Asquith immer im Kreis seiner Familie.«
»Eine hervorragende Idee!« Doro sprang auf und klatschte begeistert in die Hände. »Wir müssen sofort neue Plakate anfertigen, die meisten alten sind letzte Woche zerstört worden.«
Emmeline Pankhursts Blick glitt wohlwollend zu Doro, und sie nickte.
»Wir treffen uns um neun Uhr am Trafalgar Square, meine Damen. Natürlich sind auch alle Herren, die uns unterstützen möchten, herzlich willkommen.« Sie hob den Arm und ballte die Hand zur Faust. »Die Gerechtigkeit wird siegen!«
»Die Gerechtigkeit wird siegen!« Vielstimmig hallte der Satz durch den Saal. Auch Susan hatte sich von der aufgeheizten Stimmung anstecken lassen, ihr Kampfgeist war geweckt. Sie war sich sicher – wenn es jemandem gelang, ihr zu ihrem Recht zu verhelfen, dann waren es Emmeline Pankhurst und die
WSPU
. Sie bedauerte, deren Karte damals achtlos fortgeworfen und ihre Einladung zum Tee nicht angenommen zu haben. Wahrscheinlich wäre ihr Leben dann anders verlaufen, und sie würde heute ihren Sohn längst wieder bei sich haben.
Nach der Versammlung, als sich der Saal langsam leerte, hatte Doro für Susan und Rosalind noch eine Überraschung parat. Mit schelmischem Grinsen überreichte sie Susan einen Schlüssel.
»Die Wohnung ist nicht groß. Sie hat nur zwei Zimmer, in einem ist die Küche untergebracht, und es gibt nur ein Etagenbad, dafür jedoch kostet sie wenig und liegt nur einen Straßenzug von meiner entfernt.«
Verblüfft nahm Susan den Schlüssel entgegen und schüttelte skeptisch den Kopf.
»Meine liebe Doro, auch wenn die Miete nicht hoch ist, so muss sie doch bezahlt werden. Bisher weiß ich nicht einmal, woher ich das notwendige Geld nehmen soll …«
»Ich habe mit Sylvia Pankhurst gesprochen«, unterbrach Doro. »Wenn ihr wollt, könnt ihr gleich am Montag
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