Das Lied der Luege
einem Schlag, der direkt auf ihren Kopf zielte, ausweichen, indem sie sich duckte und dem Mann einen heftigen Tritt gegen das Schienbein versetzte. Sie kämpfte sich durch die Menge und hatte das Ende der schmalen Straße fast erreicht, als sie Rosalind entdeckte. Die Freundin hing schlaff, wie leblos, am Arm eines Polizisten, der sie rücksichtslos über das Pflaster zog und in einen Wagen stieß. Susan war nicht feige, sie erkannte jedoch, wann weiterer Widerstand zwecklos war. Im Augenblick konnte sie Rosalind nicht helfen, sondern musste zusehen, dass sie nicht selbst verhaftet wurde. So schnell sie konnte, rannte sie über die breite Prachtstraße von Whitehall und tauchte in der Richmond Terrace, die zur Themse hinabführte, unter. Andere Frauen, die entkommen waren, hatten die gleiche Idee gehabt und waren ebenfalls in diese Richtung geflüchtet.
»Sie haben Sylvia!«, rief eine Frau, und eine andere fragte: »Emmeline Pankhurst war aber nicht dabei, nicht wahr?«
»Nein, ihre Tochter meinte, es wäre zu gefährlich, darum ist sie zu Hause geblieben.«
Zu Susans grenzenloser Erleichterung stolperte in diesem Moment Doro an ihre Seite. Sie war über und über mit Schmutz bedeckt, ihr Rock zerrissen und feucht, aber sie war unverletzt.
»Diese Schweine! Sie haben uns erwartet und angefangen, auf uns einzuschlagen, dabei haben wir gar nichts getan.«
Auch Susan war über die Brutalität, mit der die Polizei vorgegangen war, entsetzt. Bereits bevor Sylvia Pankhurst ihren Brandanschlag auf das Haus des Premierministers verübt hatte, waren sie angegriffen worden. Emmeline Pankhurst hatte ebenso wie Keir Hardy ausdrücklich zu einer friedvollen Demonstration aufgerufen. Es sollten keine Steine fliegen, keine Scheiben zu Bruch gehen oder gar jemand verletzt werden. Nun, die Frauen hatten sich zuerst daran gehalten – die Staatsmacht jedoch hatte mit brutaler Gewalt die Demonstration im Keim erstickt. Obwohl Susan kein Anhänger von Gewalt oder gar Zerstörung war, hoffte sie, dass der Schaden, den Sylvia Pankhursts Fackel angerichtet hatte, erheblich war, wohl wissend, dass Mr. Asquith dies wenig interessieren dürfte. Der Premierminister würde erst dann in sein Haus zurückkehren, wenn alles wieder in Ordnung gebracht worden war.
Die Frauen, es waren rund drei Dutzend, die einer Verhaftung entkommen waren, setzten sich in Bewegung.
»Wir müssen hier weg, sie werden nach uns suchen«, raunte Doro Susan zu und zog sie mit sich.
»Sie haben Rosalind«, sagte Susan. »Was werden sie mit ihr machen?«
Doro zuckte die Schultern.
»Man wird sie ein paar Tage in Haft behalten, vielleicht wird auch Anklage erhoben werden. Ich befürchte, wegen des Brandanschlages wird es dieses Mal für uns nicht glimpflich ausgehen.«
»Was willst du damit sagen?«
»Die Regierung wird es so darstellen, als hätten wir ein gezieltes Attentat auf den Premierminister geplant.« Sorgenvoll zog Doro die Stirn kraus. »Sie wollen die Vernichtung der WSPU und werden keine Gnade walten lassen.«
»O Gott!« Susan stöhnte. »Wir müssen Rosalind aus dem Gefängnis holen, sie steht das nicht durch.«
Von der Seite warf Doro der Freundin einen sorgenvollen Blick zu.
»Ich fürchte, das wird nicht einfach sein, wenn nicht sogar unmöglich. Allen Beteiligten könnte eine Anklage wegen Hochverrats drohen. Was das bedeutet, brauche ich dir wohl nicht zu erklären, oder?«
Susan nickte stumm, ein Schauer lief ihr über den Rücken. Obwohl Rosalind viel durchgemacht hatte, war sie nicht stark. Noch gestern Abend hatte sie Bedenken geäußert und wollte sich nicht der Demonstration anschließen. Sie, Susan, hatte sie überredet, und jetzt war Rosalind verhaftet worden. Verzweifelt überlegte Susan, was sie tun könnte, die Freundin zu befreien, wusste jedoch, dass ihr die Hände gebunden waren. Sie musste unbedingt mit Emmeline Pankhurst sprechen. Wenn jemand eine Lösung wusste, dann diese Frau.
Rosalind wusste nicht, wie lange sie schon hier war, denn die kleine Zelle – sechs Schritte in der Länge und drei in der Breite – war fensterlos. Lediglich eine Kerze diente als Lichtquelle. Dreimal am Tag öffnete sich die kleine Klappe in der massiven Eisentür, und ein Blechnapf mit Essen und ein Krug Wasser wurden hindurchgeschoben. Niemand reagierte auf Rosalinds Fragen und ihre Bitten, ihr doch zu sagen, was mit ihr geschehen würde. Zweimal war eine große, kräftige Frau gekommen, um ihr Wasser zum Waschen zu bringen und
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