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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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einfach mein Konto auflösen darf. Gut, damals war er vielleicht im Recht, aber es muss doch eine Möglichkeit geben, es rückgängig zu machen, nachdem feststeht, dass ich mich noch bester Gesundheit erfreue. Als Erstes muss ich die Scheidung einreichen und dann …«
    An diesem Abend schmiedete Susan viele Pläne, und Rosalind hörte ihr schweigend zu. Sie wusste nur zu gut, dass Recht und Gerechtigkeit mit zweierlei Maß gemessen wurden, und wenn man kein Geld hatte, konnte man beides nicht erwarten. Auch wenn sich England für seine Demokratie rühmte – die Wirklichkeit sah anders aus. Das Recht lag in den Händen der Reichen, und niemand würde Susan Unterstützung gewähren, wenn sie nicht dafür bezahlen konnte. Sosehr Rosalind die Freundin verstand – im Augenblick war es wichtig, schnell Arbeit zu finden, wenn sie weiter ein Dach über dem Kopf und zu essen haben wollten.
    Am nächsten Tag überredete Rosalind Susan, Dorothea Hawkins aufzusuchen. Da diese am Abend als Garderobiere im Theater arbeitete, war Doro am späten Vormittag zu Hause. Sie hatte zwar noch geschlafen und brauchte ein paar Minuten, um zu begreifen, was geschehen war, hörte sich dann aber aufmerksam an, was Susan zu berichten hatte. In ihr erwachte sofort der Kampfgeist, Susan zu helfen.
    »Ich werde sehen, was ich machen kann«, versprach sie. »Am Samstagabend treffen wir uns ohnehin bei der Versammlung, bis dahin habe ich eine Lösung gefunden. Versprochen.«
    Obwohl Susan sich nicht vorstellen konnte, wie Doro binnen weniger Tage für sie und Rosalind Arbeit und eine neue Unterkunft finden sollte, fühlte sie sich ein wenig getröstet. Susan, die sich vorher nie für Politik interessiert hatte, fieberte nun dem Samstagabend entgegen. Sie war gespannt, was Emmeline Pankhurst zu sagen hatte, und bereute es, sich nicht früher mit den Zielen der Frauenrechtlerinnen beschäftigt zu haben.
    Susans Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück, als es im Saal plötzlich mucksmäuschenstill wurde. Für ein paar Sekunden hätte man eine Nadel fallen hören können, dann brandete Applaus auf, und Jubelrufe ertönten, wie sie Susan auf der Bühne nie jemals zuvor erlebt hatte. Eine hochgewachsene, schlanke ältere Frau mit kämpferischem Gesichtsausdruck betrat das Podest und stellte sich hinter das Rednerpult. Obwohl Jahre vergangen waren, erkannte Susan Emmeline Pankhurst sofort wieder. Der Hungerstreik während ihrer Haft hatte sie jedoch gezeichnet, denn ihre Wangen waren fahl und eingefallen, aber in ihren Augen brannte das Feuer der Entschlossenheit. Sie hob die Hand, und die Anwesenden verstummten.
    »Meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger, ich freue mich, dass ihr heute so zahlreich erschienen seid.« Mrs. Pankhursts Blick glitt wohlwollend über die Menge. Ihre Stimme hatte einen wohltuenden Klang, und sie sprach leise, trotzdem war sie bis in die letzte Ecke des Saales gut zu verstehen. »Die Ereignisse der vergangenen Woche haben uns erneut gezeigt, wie unsere Rechte … unsere Menschenrechte … in diesem Land nicht nur mit Füßen getreten, sondern mit brutaler Gewalt niedergeknüppelt werden. Mrs. Lucy Sheldon ist keine Mörderin, sondern das Opfer männlicher Willkür, gegen die sie sich lediglich gewehrt hat. Sie hat ihr Recht auf die Selbstbestimmung über ihren Körper verteidigt – dafür soll sie nun in zwei Tagen am Galgen baumeln. Das können und dürfen wir nicht zulassen!«
    Jubelschreie ertönten, die Frauen trampelten mit den Füßen so heftig auf den Boden, dass die Wände des Saals erbebten.
    »Ganz recht!«, schrie eine Frau eine Reihe hinter Susan. »Wir stürmen das Gefängnis und holen Lucy da raus.« Die Frau sprang auf, stützte die Hände in die Seiten und sah sich auffordernd um. »Am besten, wir ziehen sofort los!«
    »Worauf warten wir noch?«
    »Wir sind so viele, sie können uns nicht alle einsperren!«
    Immer mehr erhoben sich von ihren Plätzen, in den Gesichtern Kampfbereitschaft und wilde Entschlossenheit, auf der Stelle zum Gefängnis zu ziehen und Lucy Sheldon zu befreien.
    »Wartet!« Laut durchschnitt die Stimme von Keir Hardy den Tumult, und er trat neben Emmeline Pankhurst an das Rednerpult. »Gewalt erzeugt erneute Gewalt, und noch mehr von uns werden verhaftet. Mrs. Pankhurst und ich haben dem Unterhaus bereits eine Petition vorgelegt und um Begnadigung von Mrs. Sheldon gebeten. Ebenso habe ich mich persönlich an alle Tageszeitungen Londons gewandt und auch an den König

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