Das Lied der Luege
bei der WSPU anfangen.«
»Anfangen?« Susan runzelte die Stirn. »Womit anfangen?«
»Mit der Arbeit. Die Gruppierung braucht Leute, die sich um den lästigen Papierkram kümmern. Bisher haben Mrs. Pankhurst und ihre Töchter dies weitgehend allein gemacht. Seit ihre älteste Tochter Christabel jedoch nach Paris flüchten musste, da sie regelmäßig verhaftet wurde, ist die Arbeit zu viel geworden. Na, was sagt ihr dazu? Die Bezahlung ist zwar nicht hoch, denn die WSPU finanziert sich ausschließlich aus Spenden von Gönnern, vielmehr Gönnerinnen, zum Leben dürfte es jedoch vorerst ausreichen. Wir kämpfen schließlich dafür, dass du das Geld, das dir dein Mann gestohlen hat, so schnell wie möglich zurückbekommst.«
Susan und Rosalind tauschten einen vielsagenden Blick, und Rosalind antwortete zuerst.
»Ich weiß nicht. Jahrelang haben mein Mann und ich in Irland gegen die Regierung kämpfen müssen, dabei habe ich meine gesamte Familie verloren. Viel lieber würde ich eine Stellung in einem Haushalt oder als Näherin in einer Fabrik annehmen. Ich habe genug von Kampf und Gewalt, und eure Vereinigung scheint mir recht radikal eingestellt zu sein.«
»Ohne ein gewisses Maß an Gewalt wird man auf dieser Welt nichts erreichen.« Entschlossen straffte Doro die Schultern. »Der Kampf, den wir führen, ist auch für Frauen wie dich, Rosalind. Wenn du jedoch nicht willst …« Die Enttäuschung, dass ihre Überraschung weder bei Susan noch bei Rosalind Begeisterungsstürme auslöste, stand Doro deutlich ins Gesicht geschrieben.
Susan drückte die Hand der Freundin.
»Du hast es sicher gut gemeint, Doro, und ich werde mir die Sache anschauen.« Sie sah zu Rosalind. »Wir können ja … sagen wir, einen Monat … bei der WSPU arbeiten und dann entscheiden, ob wir dabeibleiben wollen. Was meinst du?«
Rosalind zögerte, stimmte dann jedoch mit einem Seufzer zu. Sie wusste, dass Susans Freundin recht hatte. Wohl alle Frauen des Landes wollten ihre Situation verbessern, wollten mittels Wahlen die Regierung mitbestimmen und sich nicht länger von ihren Männern unterjochen lassen, doch nur wenige waren bereit, auch dafür zu kämpfen. Wenn die WSPU Erfolg hatte, dann würden alle davon profitieren. Vielleicht war es nicht schlecht, sein eigenes Scherflein dazu beizutragen.
Der Sonntagmorgen zog neblig-feucht herauf. Obwohl die Fabrikkamine der Stadt an diesem Tag ruhten, lag eine Dunstglocke über der Stadt, die das Atmen erschwerte. Als Susan und Rosalind das Haus verließen, konnten sie beinahe nicht die Hand vor den Augen erkennen, so tief und dicht hing der Nebel in den Straßen. Es war noch früh, erst kurz nach sechs Uhr morgens, doch die beiden Frauen wollten ihre Sachen in die neue Wohnung bringen, bevor sie sich mit den anderen am Trafalgar Square trafen. Ihre künftige Bleibe lag im Stadtteil Brompton, nur wenige Gehminuten vom
Royal Court Theatre
und Doros Wohnung entfernt, und das Gebäude, in dem die WSPU ihr Büro unterhielt, war schnell mit der U-Bahn zu erreichen. Als Susan sich in den zwei kleinen Zimmern im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses umsah, fühlte sie einen Stich des Bedauerns, und sie dachte an ihre frühere schöne, helle Wohnung, die ihre Kollegin Kay jetzt bewohnte. Doro hatte das für sie geregelt, Susan selbst wäre nicht in der Lage gewesen, die Zimmer noch einmal zu betreten. Mit Wehmut dachte Susan an ihre Möbel, die sie hier nicht gebrauchen konnte, außerdem hatte sie Kay die Wohnung voll möbliert vermietet. Selbst wenn Kay auszog, konnte Susan sich die Miete für diese Wohnung nicht leisten. Doro hatte Susan die Kleider, die sie nicht mit nach Amerika genommen hatte, in ihr neues Zuhause gebracht. Susan warf nur einen kurzen Blick auf die Kleider, Schals, Hüte und Mäntel, die noch vor wenigen Monaten für sie von großer Wichtigkeit gewesen waren. Für ihr künftiges Leben waren diese Sachen viel zu elegant, und Susan überlegte, ob sie nicht das eine oder andere Stück zu Geld machen konnte. Einige Kleider waren kaum getragen, und sie würde sie auch nie wieder tragen, da sie nun keine eleganten Partys und Feste mehr besuchte. Diese Zeiten waren für immer vorbei, und Susan schämte sich vor sich selbst, wie leichtlebig sie von einem Fest zum anderen geflattert war und dabei unbekümmert getrunken, geraucht und sogar Rauschmittel konsumiert hatte. Vielleicht jedoch hatte sie dieses Unglück gebraucht, um zu erkennen, was ihr im Leben wirklich wichtig war.
Da
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