Das Lied der Luege
sie noch etwas Zeit hatten, bevor Susan und Rosalind zum Treffpunkt aufbrechen mussten, sahen die beiden Frauen die Kleidungsstücke durch und legten diejenigen beiseite, die Susan verkaufen wollte. Zuerst wehrte Rosalind sich dagegen, ein paar Sachen von Susan anzunehmen, Susan winkte jedoch ab.
»Wir haben fast die gleiche Figur, und was nicht passt, können wir umändern. Rosalind, es wäre schade, all diese Sachen fortzugeben. Wir wissen nicht, wie es mit uns weitergehen wird, und wir müssen jeden Penny sparen.«
Der Weg zum Trafalgar Square war nicht weit, also gingen sie zu Fuß. An diesem frühen Sonntagmorgen begegneten ihnen kaum andere Menschen, zumal der Nebel noch dichter geworden war. Auch die hoch aufragende, weithin gut sichtbare Säule des Lord-Nelson-Monuments war kaum zu erkennen. Auf dem Platz hatten sich bereits mehrere Dutzend Frauen eingefunden, viele trugen, wie bei der Demonstration zuvor, Fackeln, andere schwenkten Plakate über dem Kopf, auf denen die Freilassung von Lucy Sheldon gefordert wurde.
»Und wenn uns die Polizei angreift?« Ängstlich klammerte Rosalind sich an Susans Arm. »So wie letzte Woche. Sie haben einfach auf die Frauen eingeschlagen, und viele wurden verletzt und verhaftet.«
Eine neben ihr stehende Frau hatte Rosalinds Worte gehört und sagte: »Das wird heute nicht geschehen. Wir werden nichts tun, was die Polizei reizen könnte. Wir werden nur dastehen, unsere Forderungen kundtun und die Plakate hochhalten. Außerdem wird der Premierminister direkt vor seinem Haus keine Kämpfe dulden.«
Pünktlich mit dem Neunuhrglockenschlag der direkt neben dem Platz gelegenen Kirche St. Martin-in-the-Field, setzte sich die Menge in Bewegung. Angeführt wurden die Frauen von Sylvia Pankhurst, die ihre Fackel hoch über ihrem Kopf schwang. Als die Gruppe in das Regierungsviertel Whitehall einbog, wechselten einige Passanten erschrocken die Straßenseite. Der Weg war nicht weit, nur eine knappe halbe Meile, dann hatten sie die Downing Street, seit 1902 der ständige Wohnsitz des britischen Premierministers, erreicht. Gesang brandete auf, doch bevor die ersten Frauen sich vor dem aus dunklen Klinkersteinen erbauten Haus mit der Nummer zehn postieren konnten, tauchten aus dem Nebel plötzlich Polizisten auf. Es waren viele, sehr viele, wie Susan erschrocken feststellte. Ohne ein Wort der Warnung stürmten die Männer auf die Frauen los.
»Verdammt, wir sind verraten worden!«
Susan hörte Sylvia Pankhurst schreien, und im selben Moment traf sie auch schon ein Gummiknüppel im Rücken. Keuchend fiel sie auf die Knie. Binnen weniger Sekunden herrschte um sie herum das Chaos. Die Anzahl der Polizisten überstieg die Zahl der demonstrierenden Frauen um ein Vielfaches. Das war kein Zufall. Nein, Sylvia Pankhurst hatte es richtig erkannt: Irgendjemand hatte ihren erst am gestrigen Abend gefassten Plan den Behörden verraten, und diese hatten vorgesorgt. Wie zur Bestätigung hörte Susan die Stimme eines Mannes, der eine neben ihr kauernde Frau an den Haaren hochzog und brüllte: »Ihr glaubt doch nicht, dass der Premierminister im Haus ist und auf euren Angriff wartet. Er hat sich längst in Sicherheit gebracht.«
»Wir lassen uns nicht aufhalten!« Erneut gellte der Schrei Sylvia Pankhursts durch die Straße und wurde von den Häuserwänden zurückgeworfen. Ihr war es gelungen, ganz nahe an das Gebäude Nummer zehn heranzukommen, und jetzt warf sie ihre brennende Fackel durch ein Fenster im Erdgeschoss. Die Scheibe barst, und sofort fingen die Vorhänge Feuer. Unter ihrem Kleid verborgen hatte Sylvia Pankhurst einen mit Petroleum getränkten Lappen getragen, den sie dann um die Fackel gewickelt hatte. Das war nicht abgemacht gewesen, dachte Susan entsetzt. Sie wollten friedlich demonstrieren, doch Sylvia Pankhurst hatte von Anfang an vorgehabt, durch radikale Maßnahmen auf sich aufmerksam zu machen. Susan sah, wie zwei Polizisten die junge Frauenrechtlerin ergriffen, ein dritter boxte ihr mit solcher Gewalt in den Magen, dass ihre Knie einknickten, und ein schmaler Faden Blut rann aus ihrem Mundwinkel.
Langsam richtete Susan sich wieder auf. Sie fühlte sich wie in einem Theaterstück, das allabendlich in der gleichen Art und Weise aufgeführt wurde. Wie bereits vor Tagen rollten Gefangenenwagen an, die Polizisten packten die wild um sich schlagenden Frauen oder prügelten auf sie ein, wenn sie zu widerspenstig waren, und stießen sie in die Wagen. Im letzten Moment konnte Susan
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