Das Lied der Luege
Handbewegung. »Warum ist niemand hier? Wo ist das Personal? Ich fand die Tür unverschlossen und das Haus regelrecht verwaist vor. Dadurch sah ich mich gezwungen, den Kutscher der Mietdroschke, mit der ich vom Bahnhof in Liskeard gekommen bin, zu bitten, das Gepäck in die Halle zu tragen. Seit einer Stunde sitze ich hier und warte, aber das Haus scheint wie ausgestorben zu sein. Wo ist Monkton? Und deine Zofe?«
Lavinia versuchte, ihre flatternden Nerven unter Kontrolle zu bekommen. Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf durcheinander. Sie musste dafür sorgen, dass ihre Schwiegermutter so schnell wie möglich wieder abreiste, denn vor ihr würde sie ihr Geheimnis nicht lange hüten können.
»Ich bin allein nach Sumerhays gekommen«, antwortete sie auf Zenobias Fragen. »Wie ich bereits sagte – ich brauche völlige Ruhe, darum habe ich nicht vor, Einladungen auszusprechen oder gar Empfänge zu geben. Monkton wird in London von Edward benötigt, und die Windles kümmern sich ganz rührend um mich. Als Zofe geht mir die junge Mae Nankerris zur Hand, die ihre Sache gut macht.«
Missbilligend schüttelte Zenobia den Kopf und stieß einen verächtlichen Laut aus.
»Die beiden Alten mögen zwar das Anwesen verwalten können, haben jedoch keine Ahnung, was einer Schwangeren guttut und was nicht. Dass du deine Ruhe brauchst, akzeptiere ich selbstverständlich, dennoch darfst du nicht vergessen, was du dem Namen Tredary schuldig bist. Ein wenig Repräsentation wird unumgänglich sein, zumal Weihnachten nicht mehr fern ist. Aber keine Sorge, Kind, jetzt bin ich ja da und werde mich um alles kümmern?«
»Wie lange hast du vor zu bleiben?« Lavinia hoffte, Zenobia möge den bangen Unterton in ihrer Stimme nicht bemerken. Die Antwort ihrer Schwiegermutter war für Lavinia wie ein Schlag ins Gesicht.
»Selbstverständlich so lange, bis ich meinen Enkel in den Armen halte!« Stolz hob Zenobia das Kinn. »Wenn du schon nicht an Edwards Seite sein willst, wo du meiner Ansicht nach hingehörst, anstatt dich hier auf dem Land zu vergraben, so werde ich mich eben hier um dich kümmern.«
Lavinia wurde es beinahe schlecht vor Angst. Sie wusste, wenn Zenobia sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte sie nichts und niemand mehr davon abbringen. Sie wagte einen letzten Versuch, ihre Schwiegermutter umzustimmen.
»Kannst du Ravenwood und deinen Mann denn so lange allein lassen? Besonders an Weihnachten wird dich Archibald sicher sehr vermissen.«
Nach dem frühen Tod von Edwards Vater hatte Zenobia vor neun Jahren einen vermögenden, ebenfalls verwitweten Lord geheiratet und lebte seitdem mit ihm zusammen auf dem Besitz Ravenwood in der Nähe von Windermere im Lake District. Zwei, drei Mal im Jahr besuchte Zenobia ihren Sohn und Lavinia in London, die ihrerseits im letzten Jahr einige Wochen auf Ravenwood verbracht hatten. Es war nicht so, dass Lavinia ihre Schwiegermutter nicht mochte oder Zenobia ihr unfreundlich oder gar ablehnend gegenüberstand, nein, bis auf ihre Herrschsucht und ihre Art, dass grundsätzlich alle das zu tun und zu lassen hatten, was Zenobia anordnete, kam Lavinia mit ihr recht gut aus. An ihre ständigen Bevormundungen hatte sie sich gewöhnt und gelernt, in der Zeit, die sie mit Zenobia verbrachte, zu allem ja und amen zu sagen und ihrer Schwiegermutter nicht zu widersprechen. Jetzt jedoch wünschte sie Zenobia ans Ende der Welt. Wie sollte sie ausgerechnet ihr verheimlichen, dass sie kein Kind unter ihrem Herzen trug?
»Archibalds Rheuma lässt es leider nicht zu, dass er mich begleitet«, beantwortete Zenobia Lavinias Frage. »Zudem plagt ihn neuerdings die Gicht im linken Fuß.« Sie seufzte. »Wir werden alle nicht jünger. Umso erfreuter bin ich, dass ich noch die Geburt meines Enkels erleben kann.«
Lavinia schluckte trocken. Für Zenobia war es bezeichnend, dass sie nicht in Erwägung zog, dass es auch eine Enkelin werden konnte.
»Ach, Mutter, wir werden euch in Ravenwood besuchen. Du wirst mich und das Kind regelmäßig sehen. Es ist wirklich nicht notwendig, so lange Zeit von zu Hause fortzubleiben. Bis zur Geburt sind es noch mindestens vier Monate.«
Abschätzend glitt Zenobias Blick über Lavinias Körper und blieb auf ihrem Bauch hängen.
»Rede keinen Unsinn, Kind!« Resolut unterband sie mit einer Handbewegung Lavinias Einwand. »Ich brauche dich nur anzusehen, um zu erkennen, dass du zu wenig isst. Für eine Schwangere bist du viel zu dünn und auch zu blass. Als ich mit Edward
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