Das Lied der Luege
eine derartige Verbindung kam jedoch auf keinen Fall in Frage. Allein die Tatsache, dass es sich um einen Iren handelte, machte es Zenobia unmöglich, diesen Mann zu empfangen. Wusste doch jeder, dass Iren dumme, ungebildete Trunken- und Raufbolde waren, die auf armseligen Farmen ihr Dasein fristeten und stets bemüht waren, die Autorität der britischen Regierung zu untergraben.
Da Rosalind sich weigerte, den Antrag des Adligen anzunehmen, verordnete ihr Zenobia Hausarrest auf Sumerhays. Rosalind müsste so lange in ihrem Zimmer bleiben, bis sie einer Vermählung zugestimmt hatte. Schließlich war sie noch unmündig und hatte sich den Wünschen ihrer Mutter, die eher Befehle waren, zu beugen. An einem Morgen war Rosalind verschwunden. Zurück blieb nur ein Zettel, auf dem sie in ihrer schön geschwungenen Handschrift mitteilte, sie sei auf dem Weg nach Irland. Nichts und niemand würde sie von ihrer großen Liebe trennen.
Zenobia schrie und tobte drei Tage ohne Unterlass. Edward ließ nichts unversucht, die Spur seiner Schwester zu verfolgen – ohne Erfolg. Wahrscheinlich hatte sie sich unter einem falschen Namen eingeschifft und England bereits verlassen, und da weder Zenobia noch Edward jemals nach dem Namen von Rosalinds Liebhaber gefragt hatten, konnte er auch keine Nachforschungen in Irland anstellen. Die Geschichte machte natürlich die Runde unter allen guten Familien Englands, und die Callingtons sahen sich so manchen spöttischen Bemerkungen ausgesetzt.
»Seit diesem Tag gilt Rosalind für unsere Familie als gestorben«, hatte Edward seinen Bericht beendet, »und ihr Name wird nicht mehr erwähnt. Ich bitte dich, Lavinia, dies zu respektieren und besonders gegenüber meiner Mutter meine Schwester niemals zu erwähnen.«
»Möchtest du denn nicht wissen, wie es Rosalind geht?« Lavinia war über Edwards kaltes Verhalten entsetzt. Beschwörend sah sie ihn an. »Vielleicht ist sie gar nicht mehr am Leben oder fristet in Irland ein Dasein, das ihrer nicht würdig ist.«
Edwards Augen wurden hart wie Stein, als er mit kalter Stimme sagte: »Dann hat sie sich das selbst zuzuschreiben, denn sie hat große Schande über unsere Familie gebracht. Ich habe keine Schwester mehr, und ab sofort möchte ich über das Thema nicht mehr sprechen. Nie wieder, Lavinia, hörst du?«
Obwohl Lavinia Edward nicht aus übergroßer Liebe geheiratet hatte, ihm jedoch Sympathie und Freundschaft entgegenbrachte und ihn in den letzten Monaten wirklich gern gewonnen hatte, begann sie sich damals zu fragen, ob ihre Ehe ein Fehler gewesen war. Wie konnte ein Mann nur derart herzlos sein und seine eigene Schwester einem ungewissen Schicksal überlassen? Da es Lavinia aber ebenso ging wie Edward und sie den Namen des Mannes, mit dem Rosalind durchgebrannt war, nicht wusste, ebenso wenig, wo er in Irland beheimatet war, konnte sie keine Nachforschungen anstellen. Zudem kannte sie niemanden, der in irgendeiner Beziehung zu Irland stand. In der folgenden Zeit verdrängte der Alltag die Gedanken an Rosalind, und erst heute hatte sich Lavinia wieder an sie erinnert.
Lavinia schenkte sich ein zweites Glas ein. Wahrscheinlich hatte sie Zenobia ernsthaft verärgert, als sie Rosalinds Namen erwähnte, aber eigentlich konnte ihr das nur recht sein. Vielleicht würde das dazu führen, dass Zenobia abreiste. Lavinia würde damit zwar den Zorn Edwards auf sich ziehen, aber das war ihr gleichgültig. Hauptsache, Zenobia würde nicht hinter ihr Geheimnis, dass sie kein Kind unter ihrem Herzen trug, kommen.
Zenobia reiste nicht ab. Die nächsten drei Tage grollte sie ihrer Schwiegertochter und sprach nur das Nötigste, machte jedoch keine Anstalten, ihren Besuch auf Sumerhays zu beenden. Lavinia war äußerst nervös und angespannt. Vorausschauend hatte sie sich bereits in London ein Korsett besorgt, das ihr einige Nummern zu groß war, denn sie konnte sich auf Sumerhays nicht völlig von den Nachbarn zurückziehen. Nun probierte sie das Korsett an, nahm ein kleineres Kissen und stopfte es vorn auf ihren Bauch. Da Lavinia nicht gewohnt war, sich selbst ein Korsett zu schnüren, musste sie sich so sehr verrenken, dass Schweißperlen auf ihre Stirn traten, aber schließlich hatte sie es geschafft. Nachdem sie ein Kleid übergezogen hatte, betrachtete sie sich von allen Seiten im Spiegel. Auf den ersten Blick zeigte sich tatsächlich eine leichte Rundung in ihrer Leibesmitte, und Lavinia hoffte, die Täuschung würde auch vor den strengen Augen
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