Das Lied der Luege
sich künftig nur noch in besseren Kreisen zu bewegen.
5. Kapitel
E rschöpft vom Spaziergang zur Talland Bay und dem Gespräch mit Susan, kehrte Lavinia nach Sumerhays zurück. Sie sehnte sich nach einer heißen Tasse Tee, um in Ruhe nachzudenken. Diese Susan Hexton machte zwar nicht den Eindruck, als würde sie Schwierigkeiten bereiten, aber Lavinia musste auf der Hut sein. Menschen aus solchen Verhältnissen wie Susan durfte man nicht trauen. Für ein paar Pennys verrieten die ihre eigene Großmutter, und Anstand und Ehre waren für die meisten ohnehin Fremdwörter. Lavinia wollte, dass es Susan gutging, nun ja, in erster Linie wollte sie natürlich, dass das Kind in ihrem Bauch wuchs und gedieh und dass es ihm an nichts fehlte. Trotzdem durfte sie Susan nicht zu viel Geld geben. Nicht, dass sie sich plötzlich bei Nacht und Nebel aus dem Staub machte und Lavinia damit in eine äußerst prekäre Situation brachte. Sie hoffte, Susan richtig einzuschätzen, dass die junge Frau nämlich scharf auf die versprochenen tausend Pfund war, die sie selbstverständlich erst nach der Geburt und Übergabe des Kindes erhalten würde.
Als Lavinia die Tür zum Herrenhaus öffnete und in die Halle trat, stolperte sie fast über einen Berg von Koffern, Taschen und Hutschachteln.
»Was ist hier los?«, schimpfte sie, und die Vorahnung jagte wie ein kalter Schauer über ihren Rücken.
»Ah, da bist du ja endlich! In deinem Zustand solltest du nicht so lange Spaziergänge machen, das schadet deiner Gesundheit.«
»Mutter!« Lavinia wurde weiß wie die Wand. Haltsuchend griff sie nach der Kante einer Kommode.
Aus einem Sessel neben der Treppe erhob sich eine große, stattliche Frau. Ihr brombeerfarbenes Kleid war mit allerlei Schleifen und sonstigem Zierat ebenso pompös wie ihre ganze Erscheinung. Zenobia Heddingham, die ihre Schwiegertochter um einen ganzen Kopf überragte, musterte Lavinia von oben bis unten. Lavinia fühlte sich unter ihrem strengen Blick unwohl und nestelte verlegen an den Knöpfen ihres Mantels.
»Der Arzt hat mir frische Luft verordnet«, sagte sie leise und lächelte gezwungen. Sie hatte ihre Schwiegermutter seit dem vergangenen Sommer nicht mehr gesehen. Da sie sich in Zenobias Gegenwart immer etwas unwohl fühlte, war sie froh, dass Edwards Mutter im Norden Englands, im Lake District, lebte und sie einander nur zwei oder drei Mal im Jahr besuchten.
»Du scheinst nicht erfreut, mich zu sehen.« Lady Zenobias Stimme war ebenso klangvoll wie ihr Vorname, auf den sie sehr stolz war. Die Königin Zenobia herrschte im dritten Jahrhundert über die Stadt Palmyra in Syrien. Lady Zenobias Vater betätigte sich einst als Hobbyarchäologe und Altertumsforscher und war von der schönen und wagemutigen Königin so fasziniert, dass er deren Namen seiner Tochter gab.
Lavinia rang um Fassung und versuchte, so unbeschwert wie möglich zu antworten. »Ich habe nicht mit dir gerechnet.« Sie hauchte einen Kuss auf die faltige Wange ihrer Schwiegermutter. »Warum hast du nicht geschrieben oder telegrafiert, dass du kommst?«
Zenobia runzelte die Stirn.
»Als Edward mich informierte, dass unser Warten endlich ein Ende hat und du dich in anderen Umständen befindest, war es für mich eine Selbstverständlichkeit, sofort nach Sumerhays abzureisen, um dir zur Seite zu stehen. Allerdings bin ich enttäuscht, dass du mir nicht selbst geschrieben und mich um meinen Rat und meine Hilfe gebeten hast. Immerhin handelt es sich um deine erste Schwangerschaft.«
Wenig damenhafte Ausdrücke schossen Lavinia durch den Kopf. Von Kindheit an jedoch dazu erzogen, immer und in allen Situationen die Contenance zu wahren, zuckte lediglich eines ihrer Augenlider nervös, als sie auf Zenobias Vorwurf nicht einging, sondern sagte: »Edward hat dir sicherlich auch geschrieben, dass der Arzt mir absolute Ruhe verordnet hat, um die Gesundheit des Kindes nicht zu gefährden.«
»Darum, meine Liebe, bin ich gekommen.« Zenobia Heddingham nickte wohlgefällig. »Ich werde mich um dich kümmern und dafür sorgen, dass der Erbe von Tredary unbeschadet das Licht der Welt erblickt.«
»Das ist wirklich nicht nötig …« Lavinias Worte waren nicht mehr als ein Flüstern, lösten jedoch auf Zenobias Stirn eine Unmutsfalte aus.
»Ich hätte mir etwas mehr Freude deinerseits gewünscht, Lavinia.« Der Tadel in ihrer Stimme war unüberhörbar. »Außerdem ist meine Anwesenheit auf Sumerhays dringend vonnöten.« Zenobia machte eine raumgreifende
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