Das Lied der Luege
geblieben ist.«
»Du vergisst Rosalind«, entfuhr es Lavinia.
Zenobias Gesichtsfarbe wurde erst fahl und wechselte dann zu einem tiefen Rot. Sie keuchte, stand so hastig auf, dass sie an den Tisch stieß und dabei ihre Teetasse umwarf. Der Rest Tee ergoss sich dunkelbraun auf das blütenweiße Tischtuch. Zenobias Augen verengten sich zu Schlitzen, als sie zischte: »Wie kannst du es wagen, diesen Namen zu erwähnen! Ich schreibe es deinem Zustand zu, dass du dich mir gegenüber derartig vergisst. Schwangere Frauen sind manchmal etwas seltsam, aber ich hoffe, du lässt es nicht öfter an dem nötigen Respekt mir gegenüber fehlen.«
Sie rauschte aus dem Zimmer und schloss die Tür lauter als notwendig hinter sich. Lavinia legte beide Hände auf ihr wild pochendes Herz. Wie hatte sie nur Rosalind erwähnen können! Wahrscheinlich war es der enormen psychischen Anspannung, unter der sie seit Zenobias Ankunft stand, zuzuschreiben, dass sie den Namen, der in der Familie nicht genannt werden durfte, ausgesprochen hatte. Sie stand auf und trat zur Anrichte, auf der immer eine Auswahl von alkoholischen Getränken stand. Lavinia trank selten Alkohol, und wenn doch, dann einen leichten Weißwein oder im Winter ein Glas Punsch. Jetzt jedoch brauchte sie etwas Stärkeres, darum schenkte sie sich einen Brandy ein. Scharf rann der Alkohol durch ihre Kehle, und sie musste husten. Im Magen jedoch wärmte er, und Lavinia begann, sich zu entspannen.
Rosalind Callington … Es war etwa zwei Jahre her, dass Lavinia zufällig auf diesen Namen gestoßen war. Als sie Edward heiratete, wusste sie, dass sein jüngerer Bruder bereits im Kleinkindalter an Scharlach gestorben war, von einem weiteren Kind wurde jedoch nie gesprochen. Eines Tages – Lavinia erinnerte sich noch heute, als wäre es gestern gewesen, an diesen regnerischen Sonntagnachmittag – war sie, mehr aus Langeweile als aus Interesse, in die Bibliothek gegangen, um sich ein Buch zu holen. Dabei stieß sie auf das Stammbuch der Familie Callington, das sie nie zuvor in Händen gehabt hatte. Sie blätterte es durch und fand die Eintragung von Rosalind Callington. Es handelte sich um eine Schwester Edwards, die allerdings erst vierzehn Jahre nach Edward geboren wurde. Da im Stammbuch kein Sterbedatum vermerkt war, sprach Lavinia ihren Mann auf den Namen an. Damals reagierte Edward ähnlich aufgeregt wie seine Mutter heute und meinte, er wolle nicht darüber sprechen. Lavinia ließ jedoch nicht locker, und so erfuhr sie die Geschichte von Edwards jüngerer Schwester.
Rosalind war ein Nachzügler, Zenobia hatte nicht geglaubt, noch einmal ein Kind zu bekommen. Von Anfang an war das Mädchen der Liebling der Familie. Edward, damals bereits im jugendlichen Alter, war weit davon entfernt, auf seine kleine Schwester eifersüchtig zu sein. Im Gegenteil – er liebte und umsorgte das Mädchen, als wäre es sein eigenes Kind. Schon als Kleinkind war erkennbar, dass Rosalind einmal eine Schönheit werden würde. Dichtes, schwarzes, lockiges Haar umrahmte ein herzförmiges Gesicht, und dem Blick aus ihren veilchenblauen Augen konnte niemand widerstehen. Noch bevor Rosalind in die Gesellschaft eingeführt wurde, hatte sie zahlreiche Verehrer, die oft tagelang um Sumerhays herumschlichen, in der Hoffnung, einen einzigen Blick auf das Mädchen werfen zu können.
Rosalinds Debüt in London war der Erfolg der Saison. Sie wurde sogar Königin Victoria persönlich vorgestellt und erhielt in diesem Sommer mehr als drei Dutzend Heiratsanträge. Zenobia, die ihre Tochter gut verheiratet sehen wollte, zog einige der respektabelsten Herren in die engere Wahl. Besonders einen jungen Mann – Spross und Erbe einer Familie, die ihre Abstammung bis zu Zeiten Wilhelm des Eroberers zurückverfolgen konnte und über einen großen Besitz in Gloucestershire verfügte – hätte Zenobia gerne als künftigen Schwiegersohn gesehen. Der Mann war nicht nur äußerst vermögend, sondern auch gebildet, höflich und attraktiv. Umso mehr wunderten sich Edward und seine Mutter, als Rosalind seinen Antrag ablehnte. Im Herbst zurück auf Sumerhays, gestand Rosalind, dass ihr Herz einem anderen Mann gehöre und sie nur diesen und sonst niemanden heiraten würde. Zenobia tobte, als sie erfuhr, dass Rosalinds Auserwählter ein irischer Pferdezüchter war. Sie hatte keine Ahnung, wo und wann ihre Tochter diesen Bauerntrampel, wie sie ihn nannte, ohne ihn jemals zu Gesicht bekommen zu haben, kennengelernt hatte,
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