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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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Susan regelrecht die Werke von William Shakespeare, von denen es in der Bibliothek von Sumerhays eine beinahe vollständige Ausgabe gab. Natürlich hatte sie zuvor schon von Englands größtem Dichter gehört und kannte auch in groben Zügen die Handlungen von
Romeo und Julia
und
Hamlet
. Zuerst tat sie sich mit den in einer altertümlichen Sprache verfassten Versen schwer, las sich jedoch immer mehr ein und war bald fasziniert von der Ausdruckskraft und Wortgewalt Shakespeares. Besonders angetan hatte es ihr das Stück
Viel Lärm um nichts
, in dem Susan vor allem die Rolle der Beatrice mochte. Sie ertappte sich dabei, wie sie ganze Passagen laut las, diese dann wiederholte und ihnen einen anderen Klang gab. Susan erinnerte sich an den Theaterbesuch in Plymouth. Bereits damals hatte sie Dialoge wiederholt, die sie anders als die Hauptdarstellerin gesprochen hatte. Sie trat vor den Spiegel und zitierte eine Passage von Beatrice’ Text. Dann änderte sie ihre Körperhaltung und probierte es erneut, beim nächsten Mal senkte sie ihre Stimme, um den Dialog in einer höheren Tonart zu wiederholen. Erstaunt stellte Susan fest, wie viel Spaß ihr das Rezitieren machte. Vielleicht eignete sie sich ja als Schauspielerin? Sie lachte und betrachtete ihren geschwollenen Leib. Nun, im Moment ganz gewiss nicht, denn sie hatte noch nie davon gehört, dass schwangere Frauen auf der Bühne standen. Außerdem – sie hatte in dieser Richtung keine Ausbildung. Nur weil sie einmal ein Theaterstück gesehen hatte und Gefallen an den Stücken Shakespeares fand, war es doch vermessen, zu glauben, sie wäre für die Bühne geeignet.
    »Besser als diese Janna Howard wäre ich auf jeden Fall«, sagte sie laut, lachte und warf ihr offenes Haar zurück. Es war Unsinn, an so etwas zu denken, aber wenn sie erst wieder in London war, wollte sie auf jeden Fall ein großes Theater besuchen. Das Geld, sich eine Eintrittskarte zu kaufen, hatte sie dann ja.
     
    Je weiter Susans Schwangerschaft voranschritt, desto weniger empfand sie ihren Aufenthalt auf Sumerhays als Gefangenschaft. Sie hatte zwar nicht mehr Probleme als bei ihren ersten beiden Schwangerschaften, dennoch fragte sie sich, ob die ungewohnte Ruhe der letzten Wochen sie nicht verweichlicht hatte. Als sie Jimmy und das Kind, das nicht leben durfte, erwartete, hatte sie von früh bis spät hart gearbeitet. Natürlich war sie auch damals am Abend erschöpft und müde gewesen, hatte darüber aber nicht geklagt, denn so wie ihr erging es allen Frauen ihrer gesellschaftlichen Schicht. Man musste arbeiten, um zu überleben – gleichgültig, ob man sich wohl fühlte oder nicht. Je mehr sich nun jedoch ihr Bauch rundete, umso mehr schlief sie. Manchmal legte sie sich sogar am Nachmittag für ein oder zwei Stunden hin – ein gänzlich ungewohnter Luxus, den Susan sehr genoss, ebenso, dass sie sich nicht um das Essen kümmern musste. Dreimal am Tag brachte Mrs. Windle ihr ein Tablett ins Zimmer, und die Speisen waren reichhaltig und von guter Qualität. Einmal in der Woche nahm Susan ein Bad, bei dem ihr Mae Nankerris zur Hand ging, und wenn es nicht regnete, machte sie am Abend einen Spaziergang im Garten, bei dem die strenge und humorlose Mrs. Windle sie begleitete. Die Anlage rund um das Herrenhaus als Garten zu bezeichnen, war untertrieben. Sumerhays lag in einem, wie es Susan schien, riesigen Park, der sich in rund ein Dutzend verschiedene Abschnitte gliederte. Direkt hinter dem Haus, auf der Seite des Küchentraktes, lag der mit einer hohen Ziegelsteinmauer eingefriedete Kräuter- und Gemüsegarten. Auf der anderen Seite des Hauses, nach Süden hin, erstreckte sich terrassenartig ein üppiger Blumengarten, in dem sich bereits Anfang März die ersten Blüten den Sonnenstrahlen entgegenstreckten. An die fünfzig bis sechzig Meter lange Hortensien- und Rhododendronhecken durchzogen den Garten, und Susan bedauerte, nicht mehr hier zu sein, wenn diese in voller Pracht standen. Mit zwei Teichen, in denen Seerosen schwammen, und kleinen, mit Efeu überwucherten Nischen war der Blumengarten eine Oase der Ruhe. Weiter südlich, in Richtung des Meeres, erstreckte sich der weitläufige Landschaftspark mit uralten, mächtigen Eichen, Buchen und Edelkastanien. Aufgrund der ausgewogenen Jahrestemperaturen an der Südküste Cornwalls wuchsen hier sogar haushohe Palmen und Pflanzen, die es sonst nirgendwo in England gab. Besonders faszinierend fand Susan das Gewächs, das aussah wie übermannshoher

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