Das Lied der Luege
Rhabarber. Mrs. Windle nannte ihr auf Nachfrage den lateinischen Namen dieser Pflanze, der jedoch so kompliziert war, dass Susan ihn sofort wieder vergaß. Es gab einen Bach, der nördlich von Sumerhays am Rand des Bodmin-Moors entsprang und kurz vor Polperro in den Fluss Pol mündete. Das Ufer wurde von Trauerweiden gesäumt, deren Äste bis auf die Wasseroberfläche hingen.
»Der Garten wurde in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts von Capability Brown höchstpersönlich gestaltet und angelegt«, erklärte Mrs. Windle an einem der seltenen Abende, an denen sie sich etwas gesprächiger zeigte. Der Stolz, auf einem solchen Herrensitz zu arbeiten, klang deutlich in ihrer Stimme. »Seitdem wurde der Garten ständig erweitert, die von Brown geschaffene Grundform jedoch stets beibehalten.«
»Sehr interessant«, murmelte Susan, die den Namen Capability Brown nie zuvor gehört hatte. »Es ist bestimmt viel Arbeit, das alles in Schuss zu halten. Müssen Sie und Ihr Mann das allein bewältigen?«
»Es macht uns Freude«, erwiderte Mrs. Windle knapp und verfiel wieder in Schweigsamkeit.
Manchmal bekam Susan mit, dass Lady Lavinia Besuch erhielt. Es handelte sich um Damen aus der Nachbarschaft, die zum Tee kamen, aber nie lange blieben, da Lavinia Unwohlsein vorschützte und darauf hinwies, dass sie viel ruhen müsse. Susan grinste, wenn sie daran dachte, wie Lavinia ihren Bauch mit Kissen ausstopfte und die Damen der feinen Gesellschaft nicht erkannten, wie sie an der Nase herumgeführt wurden.
Mitte März zog sich Lavinia in ihr Zimmer zurück und empfing keine Besucher mehr. Somit war sie eigentlich ebenso eine Gefangene wie Susan, und nicht nur Susan sehnte das Ende ihrer Schwangerschaft herbei. Caja untersuchte sie nun täglich und war mit dem Verlauf zufrieden.
»Es wird nicht mehr lange dauern«, sagte sie am letzten Tag des Märzes.
Susan blieb stumm. Seit Wochen versuchte sie, das neue Leben, das in ihrem Bauch heranwuchs, zu ignorieren. Sie beachtete nicht das Treten des Kindes und zog ihre Hand sofort weg, wenn sie bemerkte, wie sie nach den Bewegungen tastete. Nein, sie durfte keine Gefühle für das Baby empfinden. Es war gegen ihren Willen gezeugt worden. Wenn es auch keine Vergewaltigung im eigentlichen Sinn gewesen war – Susan hatte sich schließlich nicht gewehrt, als der Vermieter ihren Körper in Besitz genommen hatte –, so wollte sie diese Stunden ganz aus ihrer Erinnerung tilgen. Solange das Kind jedoch da war, würde ihr das niemals gelingen. In zwei, drei Wochen würde alles vorbei sein, und bald könnte sie ihren Sohn, ein Produkt der Liebe, auch wenn ihre Gefühle für Paul längst erloschen waren, endlich wieder in die Arme schließen.
Es war eine schnelle und unkomplizierte Geburt. Susan erwachte in den frühen Morgenstunden am ziehenden Schmerz im Rücken, der ihr vertraut war. Als Mrs. Windle das Frühstück brachte, kamen die Wehen in immer kürzeren Abständen, so dass Mrs. Windle sofort Mae ausschickte, ihre Mutter zu holen. Als Caja eintraf, war die Fruchtblase bereits geplatzt. Routiniert bereitete Caja alles vor, während Lavinia mit wachsbleichem Gesicht in einer Ecke stand und die Gebärende keinen Moment aus den Augen ließ. Bei jedem Schrei Susans zuckte Lavinia zusammen, fast so, als würde sie selbst die Schmerzen empfinden. Das Kind machte es Susan leicht – noch vor der Mittagsstunde erblickte es das Licht der Welt.
»Was ist es?« Erschöpft und schweißgebadet hob Susan den Kopf und versuchte, einen Blick auf das Baby zu werfen.
»Ein Mädchen«, antwortete Caja knapp, trocknete das Kind ab und legte es Lavinia in den Arm.
»Bitte, ich möchte es sehen«, bat Susan. »Es hat sicher Hunger.«
»Es wird gleich gestillt, die Amme wartet bereits.« Lavinia wandte sich zur Tür, ohne Susan einen weiteren Blick zu gönnen.
»Aber das kann ich doch tun!« Susan stemmte sich hoch, doch Lavinia war bereits verschwunden. »Caja, was hat das zu bedeuten? Warum wurde eine Amme geholt? Ich werde doch genügend Milch haben, um die Kleine zu stillen.«
»Ladys stillen ihre Kinder nicht selbst.« Caja schaute Susan nicht an, als sie begann, die blutigen Laken zu entfernen. »Wir haben die Amme heute Morgen holen lassen, als Ihre Wehen einsetzten. Sie wartet bereits im Kinderzimmer.«
»Weiß sie Bescheid?«, fragte Susan.
Caja nickte. »Das war leider nötig, aber die Frau wird schweigen. Sie hat vor einer Woche ihr elftes Kind geboren, und ihr
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