Das Lied der Luege
an ihre Brust und hauchte einen Kuss auf den fast haarlosen Kopf.
»Anabell …«, flüsterte Lavinia. »Du sollst Anabell heißen. Und du gehörst mir, ganz allein nur mir …«
8. Kapitel
L ondon! Susan sog die dicke, von zahllosen Kaminen rauchgeschwängerte und mit vielfältigen Gerüchen vermischte Luft ein und schloss die Augen. Sosehr sie von Cornwall mit seiner nahezu unberührten Natur und der stets frischen Meerluft beeindruckt gewesen war – London war eben London und mit keinem Ort dieser Welt zu vergleichen. Hier war Susan geboren und hatte ihr bisheriges Leben verbracht, und sie war glücklich, nach den langen Monaten endlich wieder zu Hause zu sein. Vor allen Dingen war in London das, was sie schmerzlich vermisste – ihren Sohn Jimmy. Susan konnte kaum erwarten, ihn endlich wieder in die Arme zu schließen.
Vor vier Tagen hatte Susan Sumerhays verlassen, ohne ihre Tochter noch einmal gesehen zu haben. In einem unbedachten Moment hatte Caja ihr verraten, dass die Kleine auf den Namen Anabell getauft werden würde, aber Susan hatte den Stich, der ihr dabei ins Herz fuhr, ignoriert. Bei einem letzten Gespräch mit Lavinia Callington hatte diese Susan eine Geldbörse mit fünfzig Pfund in die Hand gedrückt.
»Das ist eine Anzahlung, die es Ihnen ermöglicht, nach London zurückzukehren und dort die nächste Zeit zu leben. Ich rate Ihnen, gleich bei einer Londoner Bank ein Konto einzurichten. Es ist gefährlich, mit viel Geld zu reisen. Telegrafieren Sie Caja die Bankverbindung, dann überweise ich Ihnen die restliche Summe.«
Misstrauisch schüttelte Susan den Kopf. »Ich hätte das Geld lieber sofort.«
»Zweifeln Sie etwa an meiner Aufrichtigkeit?« Lavinias Lippen wurden schmal, und sie zog eine Augenbraue hoch. »Sie können mir vertrauen, ich bin schließlich eine Dame, und in meinen Kreisen bricht man sein Wort nicht. Wenn Sie jedoch darauf bestehen, dann werde ich die Summe besorgen und sie Ihnen in bar auszahlen, damit Sie sie mitnehmen können, obschon ich das für sehr leichtsinnig halte.«
Susan hatte darauf bestanden, denn trotz allem traute sie Lavinia in der Tat nicht. Wenn sie erst von Sumerhays fort wäre, dann gab es keinen Beweis mehr, dass Anabell ihre Tochter war. Susan wusste, dass eine entsprechende Geburtsurkunde erstellt worden war – wenn man über genügend Geld verfügte, war sogar dies möglich –, und keiner der hier in Cornwall Eingeweihten würde jemals die Wahrheit über das Kind preisgeben.
»Nun gut, wie Sie wollen.« Lavinia nickte grimmig. »Ich rate Ihnen dennoch zu einem Konto, oder wollen Sie etwa künftig stets einen Koffer voller Geld mit sich herumtragen?«
»Das lassen Sie nur meine Sorge sein.« Susan wollte das Gespräch rasch beenden, um endlich von Sumerhays fortzukommen. Je länger sie in Cornwall bliebe, desto stärker wurde die Sehnsucht nach ihrer Tochter, die niemals die ihre sein würde. Aus diesem Grund gab sich Susan betont forsch und geschäftsmäßig. »Wann kann ich mit dem Geld rechnen?«
Zwei Tage später brachte Caja eine kleine Reisetasche – randvoll mit bunten Pfundnoten. Susan beherrschte sich, beim Anblick des Geldes nicht in Freudenschreie auszubrechen. Nie zuvor hatte sie so viel Geld gesehen! Sie widerstand der Versuchung, die gebündelten Scheine an Ort und Stelle nachzuzählen, denn es sah nach so unheimlich viel aus, dass es bestimmt die versprochenen tausend Pfund waren. Nachdem Susan Sumerhays verlassen hatte, verbrachte sie zwei Tage in Plymouth, um sich neu einzukleiden. Hier gab es eine reiche Auswahl an Geschäften, in denen sie fertige Kleider kaufen konnte. Wenn diese zu weit oder zu lang waren, wurden sie binnen weniger Stunden auf ihre Größe geändert. Sie wohnte in einem schönen Hotel direkt am Meer und fühlte sich wie eine Königin, als sie in dem eleganten Speisesaal von einem Ober aufmerksam bedient wurde, obwohl sie allein reiste. Susan wollte jedoch nicht zu viel Zeit in Plymouth verschwenden, es zog sie nach London und zu ihrem Sohn zurück. Seit Tagen schon kreisten ihre Gedanken ständig um Jimmy. Ob er sich in den vergangenen fünf Monaten wohl sehr verändert hatte? Bestimmt war er ein ganzes Stück gewachsen. Vielleicht konnte er sogar neue Wörter, wenn nicht gar ganze Sätze sprechen? In diesem Alter veränderten sich Kinder ständig. Susan schmunzelte, als sie an die kleine Trommel dachte, die sie in Plymouth gekauft hatte. Sie würde Jimmy gefallen, und bald würde sie ihm noch
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